Aktuell sorgt der CDU Gesundheitspolitiker Prof. Dr. med. Hendrik Streeck mit seiner Forderung nach einem Paradigmenwechsel bei der Behandlung Älterer für eine Welle der Empörung. Ihm wird die Absicht unterstellt, an den Alten sparen zu wollen. Streeck spricht hingegen davon, den Alten eine Übermedizin und unsinnige Quälerei ersparen zu wollen. Die Pflegeethik-Initiative Deutschland e.V. dankt Herrn Prof. Streeck für seinen Anstoß einer längst überfälligen Debatte. Denn auch aus unserer Sicht hat die Medizin ihren Kompass für das, was menschlich vertretbar ist, verloren. Was den Alten am Lebensende medizinisch zugemutet wird, verbessert selten deren Gesundheit oder Lebensqualität. Allzuoft werden dadurch Leidenszustände und Pflegeabhängigkeit erzeugt, verstärkt oder in die Länge gezogen. Stellt sich dann eine akute Lebensbedrohung ein, versucht die Intensivmedizin das Sterben aufzuhalten. Man Bedenke: 60 Prozent der über 80-Jährigen sterben auf Intensivstationen. Und dies, obwohl inzwischen fast jeder alte Mensch in einer Patientenverfügung erklärt hat, dass er in „aussichtsloser Lage“ keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht. Es ist höchste Zeit, über die Sterbekultur in Deutschland neu nachzudenken.
Schutz vor einer übergriffigen Medizin am Lebensende
Die Tatsache, dass ein immer höherer Prozentsatz hochaltriger Menschen ihre letzten Lebenstage auf Intensivstationen verbringt, in einem Zustand, den diese hofften, aufgrund ihrer Patientenverfügung nicht erleben zu müssen, stellt die Schutzwirkung derartiger Verfügungen in Frage.
Ganz gleich, wie genau sie die Situation vorweggenommen haben, ab wann ihre Verfügung greift, können Ärzte im konkreten Falle Gründe für lebensverlängernde Maßnahmen finden. Denn Ärzte sehen sich der Lebenserhaltung verpflichtet. Insbesondere gilt dies für die Intensivmedizin. Intensivpatienten befinden sich in lebensbedrohlichen Lagen, die viele nur deshalb überleben, weil es diese Medizin gibt. Andererseits sterben jedoch auch viele, obwohl alles medizinisch Mögliche getan wurde. Dazu zählen vor allem alte Menschen, die nach einer langen Krankengeschichte am Ende ihrer Kräfte sind; Menschen, denen jeder Laie ansehen kann, dass ihre Tage gezählt sind. Ich kannte noch Ärzte, die „aussichtslose Lagen“ als solche benannt haben. Auch heute dürften Ärzte erkennen, wenn sie mit ihrer Kunst am Ende sind. Sie geben es jedoch nur ungern zu.
Patientenverfügungen beginnen meist mit den Worten: „Im Falle meines unabwendbaren, unmittelbaren Sterbeprozesses….“. Da Ärzte sich jedoch der Lebenserhaltung verpflichtet sehen, werden im Allgemeinen nur onkologische Patienten palliativ betreut, nachdem alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Bei alten Menschen mit multiplen Leiden wird einfach immer weiter behandelt. Denn solange eine unmittelbare Sterbesituation noch nicht eingetreten ist, kann das Sterben hinausgezögert werden. Und dies geschieht heute nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen. Jeder Tag, den ein Sterbender auf Intensivstation künstlich am Leben gehalten wird, rechnet sich für die Klinik. Schauen Sie sich auf den Intensivstationen um. Die meisten Patienten sind weit über Achtzig. Sei es nach einer Operation, nach einem Notfallereignis oder einer Zustandsverschlechterung, die ohne Intensivbehandlung unweigerlich zum Tod führen würde.
Auch wenn in einer Patientenverfügung genauere Vorgaben gemacht sind, heißt das noch lange nicht, dass diese beachtet werden. Wir hatten in unsere Verwandtschaft im April einen Sterbefall, der zeigt, dass es am Ende eben doch oft ganz anders kommt, als gewünscht und verfügt:
Frau L. 88 Jahre, seit 10 Jahren auf den Rollstuhl und Unterstützung durch Pflegedienste und Haushaltshilfe angewiesen, geriet Anfang Februar in eine Notlage, nachdem der fünfte Pflegedienst gekündigt hatte. Zwar fand sie mit unserer Hilfe eine andere Lösung, jedoch schien ihr Lebenswille gebrochen. Auch körperlich baute sie zusehends ab. Sie aß nur noch ganz wenig, versuchte ihre Gefühle von Ausweglosigkeit im Wein zu ertränken und schob zu erledigende Dinge vor sich her. Ihre frühere Haushaltshilfe, die bereit war ihre Pflege zu übernehmen und bei ihr zu wohnen, war oft ratlos. Ihr Zustand hatte sich ab der ersten Aprilwoche verschlechtert. Die Atmung wurde schwerer. Beim Sprechen musste sie Pausen einlegen, weil ihr die Luft ausging. Zwischendurch kamen ungewöhnlich tiefe Seufzer. Fragte man sie dann, wie es ihr geht, antwortete sie: „Es ist alles gut. Ich merke das nicht.“ Am 4. April, einem Freitag, wollte ihr langjähriger Hausarzt zum Hausbesuch kommen. Ins Krankenhaus wollte sie auf gar keinen Fall. Sie hatte hauptsächlich schlechte Erfahrungen bei ihren zahlreichen früheren Krankenhausaufenthalten gemacht. Als sich ihr Zustand jedoch am am Tag vorher stark verschlechtert hatte, rief die Pflegerin gegen 23 Uhr den Rettungsdienst. So kam Frau L., die keine Kraft mehr hatte sich zu widersetzen, dann doch ins Krankenhaus.
Mein Mann besuchte sie am nächsten Morgen, ich war unterwegs und konnte erst nachmittags hin. Frau L. lag in einem Zweibettzimmer. Als sie mich sah, wollte sie, dass ich Sie in den Rollstuhl setze und in den Park fahre. Sie brauche frische Luft. Ich setzte sie auf die Bettkante und konnte beobachten, dass sie in dieser Position besser Luft bekam. Da ich sie in ihrem Zustand und aufgrund ihres Gewichtes nicht mal eben in den Rollstuhl setzen konnte, vertröstete ich sie auf den nächsten Tag. Ich würde ihr passende Kleidung mitbringen, um dann mit ihr nach draußen fahren zu können. Nach mehreren Versuchen gelang es mir schließlich, den Stationsarzt zu sprechen. Dieser erklärte, bezüglich der Atmung diverse Untersuchungen für die kommende Woche anberaumt zu haben. Im Moment wisse er nur, dass keine Infektion vorliege, also auch keine Lungenentzündung. Ich schilderte kurz die Lebensumstände der Patientin, was ich beachtet hatte und zeigte ihm die Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Er bat mich, diese Unterlagen im Dienstzimmer abzugeben. Der Stationsarzt war freundlich aber sehr in Eile. So begab ich mich ins Dienstzimmer und überreichte einer Pflegerin die Unterlagen, mit der Bitte, sie in die Akte der Patientin zu legen.
Als ich Frau L. am Samstagmittag auf der internistischen Station des Waldkrankenhauses besuchen wollte, war ihr Bettplatz leer. Eine Pflegerin erklärte mir, sie sei auf Intensivstation. Dort angekommen, war die Aufregung groß. Man habe die Patientin an die Beatmung anschließen müssen. Auf meine Fragen, was genau passiert sei, erhielt ich eine Antwort, die mir wenig plausibel erschien. Sie habe nicht mehr genügend ausatmen können und sei bewusstlos vorgefunden worden. Der Oberarzt habe diese Maßnahme angeordnet. Von einer Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sei nichts bekannt, man habe mich telefonisch nicht erreichen können. Die Beatmung sei ja auch nur für 24 Stunden gedacht. Man wolle die Patientin Sonntagmittag (6. April 2025) aus dem künstlichen Koma holen und die Beatmung abnehmen. Es bestünde Hoffnung, dass sie dann wieder spontan atme. Tatsächlich verstarb Frau L. jedoch etwa eine Stunde nachdem die Beatmung abgenommen worden war, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Auf diese Weise hätte sie mit Sicherheit nicht sterben wollen. Als Angehörige waren wir überrumpelt von dieser unerwarteten Entwicklung. Da fragt man nicht weiter nach. Immerhin hatte ein netter Intensivpfleger dafür gesorgt, dass sich ihre nächsten Angehörigen ungestört in einem gerade leerstehenden Intensivzimmer von der Verstorbenen verabschieden konnten. Es war kein schöner Anblick. Sie sah aufgedunsen und gequält aus.
Frau L. hatte zuvor häufiger über ihren Tod nachgedacht und sich gewünscht, sie könne einfach in ihrem Bett einschlafen und nicht mehr wach werden. Das wäre möglicherweise ja auch passiert, wenn kein Rettungsdienst gerufen worden wäre.
Als ich die Sachen unserer Angehörigen aus dem Zimmer auf der „Inneren“ abholte, erfuhr ich von ihrer Mitpatientin, dass sie in der Nacht zum Samstag sehr unruhig gewesen sei und im Halbschlaf gesprochen habe. Sie sei auch morgens nicht mehr richtig wach geworden, habe aber ständig irgend etwas sagen wollen, man habe sie jedoch nicht verstehen können.
Da Fachärzte auf ihr Fachgebiet konzentrieren sind, kannten Internisten und Intensivmediziner nur die aktuellen Untersuchungsergebnisse. Die Lebenssituation und Krankengeschichte der 88 jährigen Patientin, Dr. jur. B. L., interessierte zunächst niemanden. Ihre Bedürfnisse und Wünsche waren unbekannt. In Unkenntnis der Gesamtsituation sahen sie Frau L. nicht als Sterbende, sondern als Patientin mit einer respiratorischen Störung unbekannter Ursache. Im Arztbericht ist die lebensbedrohliche Lage zum Zeitpunkt der Krankenhauseinlieferung und Intensivbehandlung beschrieben. Demnach muss den Ärzten klar gewesen sein, dass die Beatmung ein letzter Versuch war, um den unmittelbar bevorstehenden „Exitus“ dieser 88 jährigen Patientin hinauszuzögern. Möglicherweise waren sogar wirtschaftliche Interessen auschlaggebend. Immerhin konnte das Krankenhaus zwei Tage Intensivbehandlung in Rechnung stellen. Ohne Patientenverfügung hätten sich die Ärzte sogar verpflichtet gesehen, die „Sterbende“ weitere Tage oder gar Wochen an der Beatmung zu lassen, solange bis eine Nullinie am Monitor den Tod anzeigt. Für mich war offensichtlich, dass die Ärzte wussten, dass der Tod eintreten würde, sobald die Beatmung beendet wird.
Bei einem nahen Verwandten hätten wir das so nicht stehen lassen. Frau L. war alleinstehend. Seit mein Mann ihr 2016 bei Umbaumaßnahmen der Wohnung geholfen hatte, damit sie als Rollstuhlfahrerin dort weiterhin selbstbestimmt leben konnte, war er ihre erste Anlaufstelle in vielen Dingen. Ihm hatte sie eine Generalvollmacht ausgestellt. So war es auch für mich selbstverständlich, ihr am Ende zu helfen.
Begleitung am Lebensende
Wer am Ende seiner Lebenslaufbahn angekommen ist, sollte vor allem menschlichen Beistand erfahren. Um dem unheilbar Kranken die Möglichkeit zu geben, alles ihm Wichtige noch zu regeln, wäre es wichtig, möglichst frühzeitig anzuerkennen, dass die Medizin bestenfalls noch Beschwerden lindern kann.
Insbesondere betrifft dies pflegebedürftige, alte Menschen mit Vorerkrankungen. All diese Menschen stehen dem Tod nahe, auch wenn niemand sagen kann, wie viele Monate, Wochen oder Tage ihnen noch bleiben. Auch Frau L. befand sich auf dem Rückzug, sprach immer wieder von Dingen die sie noch regeln müsste, konnte die Kraft dafür jedoch nicht mehr aufbringen. Bereits bei unserem Besuch Ende Dezember 2024 hatte ich den Eindruck, dass sie ein weiteres Weihnachten nicht erleben wird. Aktuell erlebe ich den Rückzug meiner Mutter. Bis kurz nach ihrem 95. Geburtstag im Februar war sie noch erstaunlich fit. Jetzt fragt sie sich täglich, warum sie noch aufstehen soll. „Ich kann ja nichts mehr tun. … Es ist nicht schön, so alt zu sein und nicht mehr zu wissen, wofür man noch da ist. …. Am liebsten würde ich einschlafen und nicht mehr aufwachen.“ Derart depressive Stimmungen erleben pflegende Angehörige oder Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen häufig. Die Endphase des Lebens ist für jeden mehr oder weniger schwierig. Um so wichtiger wäre es, das Sterben aus der Tabuzone herauszuholen und als Teil des Lebens zu verstehen. Mit dem gleichen Selbstverständnis, mit dem Neugeborene durch die ersten Lebensmontage und Jahre begleitet werden, sollten Sterbende am Ende des Lebens begleitet werden. Schließlich sind wir alle sterblich. Hier auf Erden gibt es kein ewiges Leben.
Eine Gesellschaft, die das Sterben auslagert und medizinisch um jeden Preis aufzuhalten versucht, ist eine von Angst getriebene Gesellschaft. Und wer in Angst vor dem Tod lebt, kann sich nicht wirklich am Leben freuen.
Die Pflegeethik-Initiative Deutschland e.V. stellte in ihrer 20. Jahrestagung am 16. November 2025 in Leutesdorf all jene Mitmenschen in den Mittelpunkt, die am Ende ihrer Lebenslaufbahn stehen und auf Beistand angewiesen sind. Unter dem Titel: Was am Ende zählt ließen fünf Mitglieder des Vereins teilhaben an ihren ganz persönlichen Erfahrungen in der Begleitung von Angehörigen, Patienten oder Pflegeheimbewohnern während der letzten Lebensphase.
Beitrag von: Adelheid von Stösser, 6. Dezember 2025
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