Wer heute Termine buchen will oder über eine Servicehotline Hilfe bei einem technischen Problem sucht, kann sich glücklich schätzen, wenn ein echter Mensch an den Apparat geht. Immer häufiger meldet sich eine Stimme, die man erst nach mehreren Fehlversuchen, in Erwartung einer hilfreichen Antwort, als KI-Stimme (Künstliche Intelligenz) wahrnimmt. Wohl dem, der einen PC hat oder per Smartphone schriftlich Kontakt zu betreffendem Dienstleister aufnehmen kann. Aber auch da antwortet immer öfter ein KI-Programm. Selbst Menschen, die wie wir täglich online unterwegs sind und sich in der digitalen Welt einigermaßen auskennen, erleben die fortschreitende Digitalisierung oft als frustrierend. Dennoch ist sie Teil unseres Alltags geworden und kaum noch wegzudenken.
Frau G. versteht die Welt nicht mehr.
Für alte und hilfebedürftige Menschen, die ohne Computer und Internet leben, zeigt sich ein ganz anderes Problem. Früher konnten wir uns darauf verlassen, dass uns wichtige Mitteilungen auf dem Postweg zugestellt wurden. Heute findet man im Briefkasten vor allem Werbung. Die Kommunikation mit Leistungsanbietern, Behörden, auch Krankenkassen findet zunehmend digital statt. Auch in unserem Verein sind Menschen ohne E-Mail-Adresse im Nachteil. Alle anderen werden regelmäßig per Mailing über Neuigkeiten informiert. Wer keine Mail-Adresse, kein WhatsApp hat, bekommt nur einmal im Jahr Post. Bei Fragen treffen diese Mitglieder jedoch am Telefon oder auch schriftlich auf echte Menschen, die sich individuell mit ihrem Anliegen befassen. So aktuell die 85-jährige Frau G. aus Köln. Sie hatte unseren Verein 2014 im Internet gefunden, als sie Hilfe in der Betreuungsangelegenheit ihres Mannes suchte. Vor 10 Jahren war Frau G. problemlos in der Lage gewesen, E-Mails samt Anhang zu öffnen. Sie hatte einen Drucker und Scanner. So konnte sie mir sofort jedes neue Schreiben vom Gericht oder vom Heim schicken, und ich konnte darauf antworten. Nachdem ihr Mann 2016 verstorben war, hatte ich lange nichts von ihr gehört. E-Mails blieben unbeantwortet. Also rief ich sie im April des Jahres an, um zu hören, wie es ihr geht. Sie freute sich sehr über meinen Anruf und schilderte ihre missliche Lage. Es stellte sich heraus, dass sie sich digital gar nicht mehr verständigen konnte. Ihr PC und Drucker standen unbenutzt in einer Schreibecke. Sie wusste damit nicht mehr umzugehen. Nun sei auch noch ihr Handy kaputt. „All meine Adressen und Telefonnummern sind weg. Ich weiß nicht, was ich machen soll. …. Jetzt will man mir auch noch den Führerschein wegnehmen. Dann bin völlig abgeschnitten und komme nirgendwo mehr hin.“ Wie sich herausstellte, leidet Frau G. an einer starken Verunsicherung ihres Lebens. Sie, die früher als Chefsekretärin in der Lage war, alles zu regeln und zu ordnen, spürt, dass sie den Überblick verloren hat. Und je mehr sie sich bemüht, eine Sache, die ihr gerade besonders wichtig ist, in den Griff zu bekommen, desto mehr macht sie sich und andere verrückt. Was ihr in dieser Situation helfen könnte, wären verständnisvolle Mitmenschen in ihrem Umfeld, die ihr Stabilität und Sicherheit geben. Bis man ihr in der letzten Woche die Fahrerlaubnis tatsächlich entzogen hat, fuhr sie täglich (unfallfrei) mit dem Auto zum Arzt, zur Bank, zum Gericht, zum Einkauf, und, was ihr besonders wichtig ist -zum Grab ihres Mannes. Jetzt sitzt sie in ihrer Wohnung und fragt sich, welchen Sinn ihr Leben noch hat. Hätten Ärzte, Gericht und Betreuerin frühzeitig, als die Überforderung deutlich wurde, für eine menschliche Begleitung gesorgt, hätte diese Entwicklung wahrscheinlich verhindert werden können.
Wer nicht durchblickt, den kann man digital leicht betrügen.
Menschen, die gar kein Internet kennen, haben zumindest den Vorteil, dass sie nicht mit Vorgängen und Meldungen überfordert werden. Bis auf eine Klientin, die wir mit unserem HelferNetz-daheim begleiten, hat niemand Internet. Meist sind es Angehörige, die ihre Post erledigen. Von den über achtzigjährigen Frauen, die als Witwen alleine leben, sind nur verhältnismäßig wenige mit behördlichen Angelegenheiten vertraut. „Früher hat sich mein Mann um alle Formalitäten gekümmert. …. Ich war für die Kinder und den Haushalt zuständig.“, heißt es dann oft. Und wer nicht durchblickt und nichts falsch machen will, sucht Hilfe. Findet sich kein Angehöriger, besteht die Gefahr, an „Geschäftemacher“ zu geraten. Fremde Personen, die den fehlenden Durchblick des alten Menschen zum eigenen Vorteil auszunutzen wissen. Aber auch Angehörige nutzen nicht selten die Gelegenheit, die ihnen eine erteilte Kontovollmacht oder andere Vollmachten bieten. Die Digitalisierung erleichtert Vertuschung und Betrug. Musste man früher selbst auf der Bank erscheinen und sich ausweisen, werden Überweisungen heute bequem vom PC aus getätigt.
Wir raten alten Menschen, sich regelmäßig die Kontoauszüge zuschicken zu lassen und bei fraglichen Abbuchungen/Überweisungen nachzufragen. Wer Internet hat und damit umgehen kann, ist deutlich im Vorteil. Er kann selbst recherchieren und ist weniger auf andere angewiesen. Menschen, die keinen Zugang zur virtuellen, digitalen Welt ihrer Mitmenschen haben, sehen sich außen vor und werden mitunter auch so behandelt. Eine aussterbende Generation, die noch in einer Realität lebt, die der Fortschritt unaufhaltsam hinwegfegt.
Der Fernseher als Fenster zur Welt
Menschen ohne digitale Kompetenz werden durch Digitalisierung gesellschaftlich an den Rand gedrängt. Bedürfnisse nach menschlichem Rat und Zuwendung, kann keine Roboterstimme erfüllen. Digitalisierung trägt insgesamt eher zur Isolierung und Vereinsamung bei. Sie verringert soziale Kontakte. „Wenn ich drei Sätze am Tag mit einem Menschen wechsle, ist das viel.“, erklärte besagte Frau, die jemanden „fürs Schriftliche“ suchte. „Als meine Freundin noch lebte, sind wir regelmäßig irgendwohin gefahren, wo es schön ist, oder essen gegangen. Jetzt müsste ich mir ein Taxi nehmen. Auch wenn ich mir das finanziell leisten kann, tue ich das nicht, weil ich mir blöd vorkomme, alleine im Restaurant zu sitzen oder auf Veranstaltungen zu gehen.“ Abgenabelt von der aktiven Teilnahme und Zugehörigkeit, sitzt die heutige Generation der Alten vor dem Fernseher und schaut sich das Leben und Treiben der anderen an. Zumindest diejenigen, die noch gut genug sehen und hören können. Ab einem bestimmten Punkt lässt jedoch auch das Interesse an dieser Form der Unterhaltung nach. So erklärte Frau G., sie würde den Fernseher nur noch ohne Ton laufen lassen und sich nur noch Sendungen mit Tieren, Kindern und Musik anschauen. Alles andere rege sie zu sehr auf. Meine 94-jährige Mutter schaut sich jeden Morgen einen Gottesdienst im Fernsehen an. Früher hat sie auch noch regelmäßig die Nachrichten gehört. Aber, was da alles so in Welt passiert, wolle sie gar nicht mehr wissen.
Günter Jauch schwärmt für E-Rezepte
In einer Fernsehwerbung vor Acht sah ich kürzlich einen Spot, in dem Günter Jauch vorführt, wie kinderleicht es ist, sich seine Medikamente per Smartphone nach Hause liefern zu lassen. Man benötige nur eine bestimmte App und könne sich den Weg zur Apotheke gänzlich ersparen. Offenbar hat dieser Moderator noch nichts von der Unausgereiftheit des E-Rezeptes mitbekommen, das bisher eher zusätzliche Arbeit macht. Dazu ein kurzes Beispiel von Anfang September in einer Apotheke in Bayern. Frau F. hatte sich bereit erklärt für eine kranke Nachbarin wichtige Medikamente abzuholen. Vor ihr wurde ein Mann bedient, der nicht akzeptieren wollte, dass sein E-Rezept nicht vorliege. Die Apothekerin versuchte das telefonisch mit der Praxis zu klären. Nach einer gefühlten halben Stunde gaben beide schließlich auf. Jetzt war Frau F. an der Reihe. Aber auch das elektronische Rezept ihrer Nachbarin tauchte im Computer der Apotheke nirgends auf. Da es Freitag war und die Medikamente gebraucht wurden, griff die Apothekerin erneut zum Telefon, in der Hoffnung, dass die Praxis noch mit einer kompetenten Mitarbeiterin besetzt war, die nachprüfen konnte, wo es hakte. Wiederum ohne Erfolg. Am Montag wurde Frau F. telefonisch benachrichtigt, sie könne die Medikamente für ihre Nachbarin jetzt abholen.
Dass es auch anders und menschlicher geht, zeigt das Beispiel der Zusammenarbeit zwischen der Ärztin Dr. L. und der Apotheke M. Zweimal die Woche, bei Bedarf auch öfter, kommt eine Mitarbeiterin der Apotheke in die Praxis von Dr. L., um die neu ausgestellten Rezepte analog abzuholen. Die Apotheke bringt die rezeptierten Medikamente später ihren Kunden, die nicht mehr selbst kommen können.
Auch die elektronischen Patientenakte bereitet derzeit große Probleme. Zudem schwächt sie das Vertrauensverhältnis zum Arzt und birgt die Gefahr, dass die Daten unbemerkt für alle möglichen Zwecke missbraucht werden. Siehe auch: Schweigepflicht war gestern, künftig gilt der gläserne Patient.
Ein Beispiel dafür, wie nur die Vorzüge „Digitaler Gesundheit“ dargestellt werden, bietet der Digital Health Truck, der gerade durch Baden-Württemberg fährt. In diesem „Truck“ (zu Deutsch „Bus“) können Interessierte verschiedene digitale Anwendungen ausprobieren und sich z.B. Videos zum elektronischen Rezept oder der elektronischen Patientenakte anschauen. Im Übrigen in einer Sprache, die sich NICHT an ältere Menschen wendet.
Haben die Alten überhaupt einen Vorteil durch die Digitalisierung?
Diese Frage wurde scheinbar bis heute von niemandem gestellt. Vielmehr wird uns die Digitalisierung ausschließlich positiv verkauft. Die Alten trauen sich nicht, etwas dagegen zu sagen, und die Jungen können sich in eine gänzlich analoge Welt nur schwer hinein versetzen, in der die Alten bis vor wenigen Jahrzehnten ausschließlich gelebt haben. Da die Alten ja ohnehin bald sterben und ihre Meinung nicht gefragt ist, meinen die Jüngeren, darauf keine Rücksicht nehmen zu müssen. Schritt zu halten mit dem Fortschritt, darauf kommt es an.
Für die Alten bringt die Digitalisierung folgende Nachteile:
- Kommunikation und Verständnis zwischen Jung und Alt sind erschwert.
- Abhängigkeit von der Hilfe anderer, in allen Dingen, für die ein PC und Internet benötigt wird.
- Verunsicherung und Verwirrung, wie im Beispiel von Frau G. Nachlassende kognitive Fähigkeiten verstärken den Stress und das Risiko, etwas falsch zu machen.
- Gefahren im Internet mit gravierenden Folgen.
- Der Gefahr ausgesetzt zu sein, betrogen und bestohlen zu werden, ohne das nachträglich überprüfen zu können.
Die Digitalisierung nutzt alleine jenen, die wissen, wie man damit möglichst gefahrlos umgeht. Je weiter sie fortschreitet, desto abhängiger und unfreier werden die meisten Menschen werden; einer Technologie ausgeliefert, die bestenfalls ein paar wenige Menschen überblicken und bedienen können.
Für die nachfolgenden Generationen wäre es besser, sie würden aus den Erfahrungen der Alten lernen, anstatt sich von einer „Alexa“ (KI-Stimme) das Leben erklären zu lassen.
Jeder einzelne Falle, in dem ein alter und pflegebedürftiger Mensch durch die Digitalisierung eine soziale und wirtschaftliche Benachteiligung erfährt, erfüllt juristisch den Tatbestand der Diskriminierung. Davon betroffen sind mehrere Millionen Bundesbürger.
Warum Diskriminierung kein Kavaliersdelikt ist, erfahren wir auf der Seite: Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Während derzeit bei bestimmten Minderheiten wie beispielsweise „Transpersonen“ jegliche Art der Diskriminierung angeprangert und Inklusion eingefordert wird, bleibt es bei der gesellschaftlichen Ausgrenzung unserer alten Mitmenschen auffällig still. Nur vermeintlich gibt es (noch) eine Wahlmöglichkeit zwischen analogen und digitalen Verfahren. Tatsächlich bleibt mehr und mehr nur die digitale Variante. Für die Alten wird diese Welt immer verrückter. Beispielsweise angesichts des neuen Rechts auf Selbstbestimmung bei der Geschlechterwahl. Laut diesem Gesetz können sich Menschen ab dem 14. Lebensjahr künftig das Geschlecht aussuchen mit dem sie leben wollen. So könnte sich der 90jähriger Josef in Josefine umbenennen und als Frau ansprechen lassen. Wenn er eine operative Geschlechtsumwandlung verlangen würde, dann würde diese von seiner Krankenkasse bezahlt. Wenn Josef/Josefine jedoch sein/ihr Recht auf eine würdevolle menschliche Unterstützung im eigenen Zuhause wünschen, da sie keine Angehörigen haben und nicht das nötige Geld für die Hilfe zu Hause aufbringen können, werden sie ihre letzte Lebenszeit fremdbestimmt in einem Heim zubringen müssen.
Fakt ist: Je älter und hilfebedürftiger der Mensch, desto eingeschränkter sein Recht auf Selbstbestimmung.
Bei allen Vorzügen die eine Digitalisierung hat oder haben kann, sind wir menschlich wie ethisch verpflichtet, darauf zu achten, dass niemand benachteiligt wird, der sich in der virtuellen Welt nicht zurecht findet. Eine analoge Teilhabe am Leben, an der Gesellschaft, muss für alle Menschen gegeben sein, die sich digital nicht informieren und austauschen können oder dies nicht wollen.
Autorinnen:
Adelheid von Stösser und Dr. Fee Friese
Das Titelfoto zeigt die Freude der Elvira O. über die wiedergewonnene Freiheit, ihr Geld am Automaten selbst abzuheben. Zuvor hatte ihr eine gerichtlich bestellte Betreuerin jeglichen Zugriff auf ihr Leben genommen. Lesen Sie hier, wie es ihren Töchtern, mit Unterstützung von Frau von Stösser und Herrn Kusch, gelungen war, Frau O. aus der Gewalt dieser „Betrügerin“ zu befreien, so dass sie ihre letzten drei Lebensjahre selbstbestimmt und in Würde daheim verbringen konnte: Der Fremdbestimmung entflohen