Besinnung auf ethische Werte

Foto Rosetta-e-Maria

Erneut steht unser Pflegesystem vor dem Abgrund. Die Kassen sind leer, die Beiträge  steigen, die Kosten ebenso. Vor allem jedoch fehlt es an Personal. Keine der zahlreichen Reformen, die wir seit Einführung der Pflegeversicherung vor fast 30 Jahren erlebten, konnte das System stabilisieren. Denn diesem System fehlt der Boden. Es orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der Betroffenen und setzt außerdem falsche Anreize. Sein Ansatz ist technokratisch und auf die körperliche Versorgung ausgerichtet. Und die Politik hat immer noch keinen anderen Plan, als die Bürger zu verpflichten, weiteres Geld in dieses Fass ohne Boden zu versenken. Seit Bestehen fordert die Pflegeethik-Initiative Deutschland e.V. eine Neuausrichtung, die sich an ethischen Prinzipen und am Ergebnis orientiert.

„Geld pflegt keine Patienten“

Auf der einen Seite erleben wir, dass der Staat, und somit jeder Bürger, sehr viel Geld in Gesundheitsleistungen und Pflege investiert.  Deutschland hat das  teuerste Gesundheitssystem der EU. Auf der anderen Seite erleben wir, dass die menschliche Qualität mehr und mehr auf der Strecke bleibt. Seit Corona scheinen hier alle Dämme gebrochen. So wurde kürzlich das Ergebnis einer Untersuchung in Österreich vorgestellt, wonach sich der Einsatz von Psychopharmaka in der Altenpflege seit 2020 nahezu verdoppelt hat. In Deutschland dürfte es nicht anders sein. Wurde die Praxis der medikamentösen Ruhigstellung vor Corona noch regelmäßig öffentlich thematisiert, will heute niemand mehr darüber berichten oder davon hören.

Wir leben in einer Gesellschaft, die ihre Alten in 4000 Euro teuren Heimen entsorgt und sich inzwischen höchstens noch über die steigenden Kosten aufregt.

Auch in Kliniken erleben wir, wie die Zeit für Menschlichkeit wegrationalisiert wird. Kleinere Krankenhäuser auf dem Land rechnen sich nicht. Gefördert werden Klinikkomplexe die ein breites Spektrum an Spezialgebieten abdecken. An Menschen mit Orientierungsproblemen ist dabei gar nicht gedacht. Selbst mobile und kognitiv fitte Patienten verlaufen sich dort regelmäßig. Aus Häusern für Kranke (Krankenhaus) sind Medizinfabriken geworden, in denen sich Menschen mit Funktionsstörungen „durchchecken“ und reparieren lassen können. Gab es vor Jahren noch Protestaktionen von Pflegekräften, mit Schlagworten wie: „Geld pflegt keine Patienten.“, scheinen kritische Stimmen seit Corona vollständig verstummt. Mitarbeiter, Ärzte wie Pflegende funktionieren als Rädchen in diesem technokratischen System. Wen wundert es da, wenn menschliche Handgriffe und Zuspruch, wo immer möglich, durch Robotik ersetzt werden soll.

Digitalisierung verstärkt die menschliche Not.      

Volker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr, ließ am 18. Oktober 2024 in einer Pressemitteilung verlauten:

„Es ist an der Zeit, jetzt aus der Digitalstrategie eine ‚Digital-only‘-Strategie zu machen. Wir müssen analoge Parallelstrukturen konsequent abbauen und auf komplett digitale Prozesse setzen.“

Wir stimmen dem Journalisten Norbert Häring zu, der als Reaktion auf Wissings Aussageerklärt: „Es ist ein Maß für die Verlotterung unseres Gemeinwesens, dass ein Minister das offen sagen kann, ohne dass ein Sturm der Entrüstung ihn hinwegrafft“, denn, „analoge Parallelstrukturen konsequent abbauen“ heißt doch: Ohne Smartphone kannst Du am öffentlichen Leben nicht mehr teilnehmen! 

Offenbar hat dieser Minister wie alle, die ihm zustimmen, jegliches Gespür für Menschen verloren, die sich alters- oder krankheitsbedingt in der digitale Welt nicht zurechtfinden. Diese Haltung ist diskriminierend und inakzeptabel.

Ohne direkten Kontakt von Mensch zu Mensch geht die Menschlichkeit  verloren. Denn der Mensch braucht den Menschen, um sich als Mensch erleben zu können. Säuglinge starben, die nur körperlich versorgt wurden, ohne liebevolle Berührung und Ansprache. Die Bilder, die wir in Pflegeheimen sehen, zeigen einen mehr oder weniger ausgeprägten Grad von Hospitalisierung und Regression. Der Grad der (Un-)Menschlichkeit in Pflegeeinrichtungen ließe sich am Ausmaß der Hospitalisierung ablesen. Dort, wo menschliche Werte gelebt und keine chemischen Fesseln angelegt werden, erwidern die Bewohner ein freundliches Wort oder ein Lächeln. Sie freuen sich und zeigen Gefühle.

Auf die Haltung kommt es an!

Wie der Ton die Musik macht, erzeugt die Haltung der Pflegenden positive oder negative Stimmungen. Gehe ich entspannt zur Arbeit, kann ich zur Entspannung  anderer beitragen. Bin ich jedoch gestresst, werde ich Stress verbreiten. Wir Menschen sind eben keine Roboter. Wir haben Gefühle, die uns herunterziehen oder über uns hinauswachsen lassen können. Mehr als 98 Prozent unserer Reaktionen sind emotional. Selbst bei denen, die sich für sehr rational halten. Und jeder Mensch ist emotional anders beschaffen. Wir haben nicht nur einen individuell unverwechselbaren Fingerabdruck, jeder Mensch ist einzigartig. Um dieser Individualität und Einzigartigkeit des Menschen Rechnung zu tragen, wurde die Achtung der Menschenwürde zum höchsten Gut in unserem Grundgesetz erklärt. Der Staat, mithin wir alle, die wir das Staatsvolk bilden, haben für die Wahrung der Menschenwürde Sorge zu tragen. Wenn wir beispielsweise erfahren, dass schutzbedürftige Menschen in Heimen ruhiggestellt werden, damit Personal eingespart werden kann, sind wir gefordert, Einspruch zu erheben.  Viele gehen derzeit auf die Straße und rufen „Nie wieder“. Diese „Gutmenschen“ sollten alle mal ein paar Tage in Pflegeheimen arbeiten, denn dort erleben wir gegenwärtig wieder, wie unmenschlich mit Menschen umgegangen wird, die der Gesellschaft zur Last fallen.

Es ist zu viel Geld im System, das im Gesundheitsmarkt verschwindet.

Um dem Totschlagargument des Kostendrucks entgegenzutreten, könnte ich hier eine Liste der Nutznießer unseres Gesundheitswesens aufführen. An dieser Stelle soll jedoch der Hinweis genügen, dass nicht die Politik die Regularien bestimmt, sondern der Gesundheitsmarkt. Die Politik bedient die Interessen der Lobbyisten. Wenn einzelne Betroffene, oder wir als kleiner Verein, Veto einlegen und Verletzungen der Menschenrechte anzeigen, wird darauf keine Rücksicht genommen. Seit Bestehen unseres Vereins habe ich an zahlreichen Beispielen aufgezeigt, wie wir mit menschlich guter Pflege nicht nur größere Zufriedenheit bei allen Beteiligten hervorrufen, sondern auch sehr viel Geld sparen könnten. Nach meiner Überzeugung könnte sogar in den allermeisten Fällen eine Langzeitpflegebedürftigkeit verhindert werden, wenn dies denn überhaupt jemals  das Ziel sein sollte.

Da der Gesundheitsmarkt auf Wachstum programmiert ist, freut er sich über jeden dauerhaften Medizinkonsumenten. Die Kranken bringen das Geld, nicht die Gesunden.

Anstatt die Verhinderung von Langzeitpflegebedürftigkeit zum Maßstab zu erheben, lässt man es zu, dass Zigtausende von Menschen durch Fehlbehandlung zum Pflegefall werden.  Selbst in aussichtslosen Fällen sind Ärzten gehalten, alle medizinischen Möglichkeiten auszunutzen. Folglich rechnet heute der Klinikökonom den Chefärzte die Zahlen erwarteter Eingriffe und Behandlungen vor.

Beispiel Transplantationsmedizin
Kliniken benötigen eine gewisse Anzahl an Transplantationen, damit sie ihre Zulassung behalten und sich rechnen. Auch wenn der Transplantierte den Eingriff nicht überlebt, zahlt die Kasse die im Leistungskatalog vereinbarten Summen. Bezieht man alle Kosten einer Transplantation ein, angefangen bei der Hirntod-Feststellung, über die Organentnahme beim sogn. „Spender“, den Transport der Organe, die Logistik, die intensivmedizinische Vorbereitung auf den Eingriff, bis hin zur Operation und intensivmedizinischen Nachsorge, kommt man auf Kosten von mehr als 100.000 Euro pro Transplantation. Aber damit ist es nicht getan. Jeder Transplantierte bleibt lebenslang abhängig von Medikamenten. Starke und gesundheitsschädliche Medikamente, die das Immunsystem beeinträchtigen, damit das fremde Organ nicht abgestoßen wird. Nicht wenige stehen kurze Zeit später erneut auf der Liste, weil das Organ abgestoßen wurde.  Während für die vermeintliche Lebensrettung eines Menschen mit Organversagen, kein Preis zu hoch erscheint, müssen Patienten mit Mobilitätseinschränkung um jedes Hilfsmittel kämpfen.

Unser HelferNetz-daheim unterstützt derzeit eine oberschenkelamputierte 68-jährige Frau, die einen E-Rolli beantragt hatte, den sie zusammengeklappt im Auto mitnehmen kann. Damit könnte sie, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, die meisten Besorgungen selbst  machen. Der beantragte Rollstuhl kostet etwa 4.300 Euro. Die Kasse genehmigte jedoch nur ein nicht zusammenklappbares Modell, welches 3.500 Euro kostet und für diesen Zweck  ungeeignet ist. Um nur eins von unzähligen alltäglichen Beispielen für die unterschiedlichen Maßstäbe anzuführen.

Abgesehen von den Kosten stellt die Transplantationsmedizin ein ethisches Dilemma dar. Um die Transplantationsrate zu erhöhen, setzen Lobbyisten die Politik unter Druck. Nachdem die Einführung der Widerspruchsregelung 2020 im Bundestag gescheitert war, wird nun versucht sie auf Landesebene einzuführen.  Um die Bedeutung nochmals für alle klar zu machen:  Wer es in gesunden Zeiten versäumt hat, einer Organentnahme – auf dem Papier oder in betreffenden Internetportalen – zu widersprechen, dem dürfen bei lebendigem Leibe sämtliche Organe entnommen, nachdem Ärzte den „Hirntod“ festgestellt haben.  Damit nicht genug, der gesundheitspolitische Sprecher der FDP plädierte jüngst für eine Organentnahme nach Herz-Kreislauf-Stillstand bzw. „Herztod“. Es wird immer gruseliger, was in diesem Kontext von politischen Verantwortlichen gefordert wird.

Dr. Hontschik, ehemaliger Chefarzt und Notfallmediziner, läuft es da kalt den Rücken herrunter: „Wenn man tot ist, kann man keine Organe mehr entnehmen. Tot ist tot. Tote Organe sind unbrauchbar, eben tot. Also muss man sozusagen Vorstufen des Todes erfinden. Der Hirntod war eine erste solche Erfindung. Und weil die Feststellung des Hirntodes so wahnsinnig kompliziert und aufwändig ist, wird jetzt eine weitere Vorstufe des Todes hinzugezogen, das ist der Herz-Kreislauf-Stillstand. Hier geht es also nicht um Medizin oder um Wissenschaft, sondern nur um Organbeschaffung.“
Zur Absurdität des Herztod-Konstruktes bemerkt Hontschik: „Wenn ich die Wiederbelebung einstellen muss, dann ist der Mensch tot. Ich wiederhole mich, weil es so wichtig ist: Tot ist tot. Tote Organe sind unbrauchbar, eben tot. Wie wird also der Übergang von den Wiederbelebungsversuchen zur Organentnahme organisiert? Steht das Explantationsteam (im Geiste) schon hinter mir, während ich auf der Straße, in einem Wohnzimmer oder auf einer Krankenstation die Wiederbelebung versuche?“
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Sterben gehört zum Leben!

Gestern gedachten die Protestanten der Reformation; und heute, am 01. November, gedenken die Katholiken der Heiligen. Bei allem, was beide Konfessionen trennt, eint sie der Glaube an eine „Auferstehung von den Toten“ und ein neues Leben im Himmel. Im Grunde haben alle Religionen eine Gemeinsamkeit, nämlich die Vorstellung, dass unsere eigentliche Existenz geistiger Natur ist und das Erdenleben nur eine kurze Phase unseres Daseins darstellt. Wir sind Wesen mit Seele. Als solche haben wir vor der Geburt  bereits gelebt. Nach dem Tod der irdischen Hülle, wird jeder von uns als  einzigartiges, menschliches Wesen weiterleben. Nichts geht verloren und niemand geht verloren.

An Allerheiligen gelten die Gedanken Menschen, denen besondere Verdienste während ihrer Zeit auf Erden zugesprochen werden. Mutter Teresa ist eine der jüngsten Heiligen. Sie hat sich um Mittellose und Kranke in Kalkutta gekümmert, hat die Verstoßenen von der Straße geholt und sie gepflegt. Ihrem Vorbild sind andere gefolgt, und so sah sich schließlich die Regierung aufgerufen, sich um diese Menschen zu kümmern.  Mutter Teresas Verständnis war: Wir sind alle Seelengeschwister und Kinder Gottes, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität oder Glaube. Während meiner Pflegeausbildung in einem von Ordensschwestern geleiteten Krankenhaus habe ich zwar keine Mutter Teresa erlebt, aber dafür Schwestern mit gleichen Wertvorstellungen. Sie alle, wie auch weltliches Personal und Ärzte, lebten und arbeiteten nach einem christlich/ethischen Wertekodex. Dazu gehörte eben auch, zu erkennen, wann es besser ist, den Kranken sterben zu lassen und dies einfühlsam zu kommunizieren. Heute verdienen Krankenhäuser das meiste an Sterbenskranken, indem sie diese möglichst lange intensivmedizinisch am Leben halten.  Aus der Sorge um Kranke und Pflegebedürfige wurde mehr und mehr ein Geschäft gemacht. Diejenigen, die heute auf dem Gesundheitsmarkt den Ton angeben, verfolgen rein monetäre Ziele. Am Ende werden jedoch auch sie sterben und Rechenschaft für ihr Tun oder Lassen ablegen müssen.

All unsere Lebensdaten, unsere Erfahrungen, Erlebnisse, unser Denken und Handeln sind gespeichert auf „der Festplatte“ unserer Seele. Im Sterben verliert die Seele ihre Anbindung an den Körper. Jede Körperzelle ist beseelt. Ohne die impulsgebende Kraft der Seele stirbt sie. Den Körper aus Fleisch und Blut lassen wir auf Erden zurück. Unsere unverwechselbare, einzigartige Seele lebt weiter.

Anstatt die künstliche Intelligenz zum goldenen Kalb zu erklären, wäre eine  Besinnung auf die emotionale Intelligenz der bessere Weg. Wie jedes Samenkorn alle Informationen gespeichert hat, um eine Pflanze hervorbringen zu können, trägt jeder Mensch alles Wissen  in sich. Unser „Gewissen“ meldet sich unwillkürlich. Nicht selten in Krankheitssymptomen, wenn ich mich nicht so verhalte, wie es gesund wäre. Wer wissen will, wie man ein hohes Alter bei guter Gesundheit erreicht, sollte nicht Ärzte oder Wissenschaftler fragen, sondern Menschen, die sehr alt geworden sind.

In allen Hochkulturen wurden die Alten geehrt. Vor allem solche, die für ein friedliches Miteinander gesorgt haben. Auch in der Tierwelt orientieren sich die Jungen an den Alten. Wir erleben gerade die schädigenden Auswirkungen einer  gegenteiligen Entwicklung. Es geben diejenigen den Ton an, die die kognitive Intelligenz für den Nabel der Welt halten und das Materielle über das Menschliche stellen.

Adelheid von Stösser,   1. November 2024


Siehe auch Beitrag: Digitalisierung schließt alte Menschen aus.

Fallbeschreibung:  Wie Medizin und Pflege den Kranken kränker macht.

Das Titel-Foto will zugleich an Humunitude erinnern, siehe:  Zuwendungsorientierte Pflege nach dem Vorbild von Gineste/Marescotti