Fixierung: Grausame Pflegepraxis

Weil menschliche Begleitung zu teuer erscheint, werden sturzgefährdete alte Menschen ans Bett gefesselt. Das Foto zeigt die Heimbewohnerin, Frau W., die mit Bauchgurt und Gitter, Tag und Nacht in ihrem Bett festgehalten wurde. Vorausgegangen war ein Krankenhausaufenthalt, wegen Schenkelhalsbruch nach einem Sturz, zu dem es kurze Zeit nach ihrem unfreiwilligen Einzug in dieses Heim kam.  Nach unseren Recherchen lässt sich dieser Sturz auf die ungewohnte Umgebung, den seelichen Stress sowie die Medikation zurückführen.  Damit Frau W. diese Qual ohne lautes Schreien und Befreiungsaktionen über sich ergehen lässt, wurde sie medikamentös so eingestellt, dass sie nur apathisch daliegen konnte. Weiteres zu diesem Fall finden Sie im zweiten Teil meines Referates: Wenn Medizin und Pflege den Kranken kränker macht.

Radiosendung Deutschlandfunk vom 14.11.2014 
Die umstrittene Fixierung im Pflegeheim

Ähnlich ergeht es schätzungweise 400.000 Pflegeheimbewohnern in Deutschland, so die Erhebung im Rahmen des Projektes ReduFix.  Wobei jedoch nicht alle, gleich Frau W., rund um die Uhr in ihren Betten fixiert sind. Überwiegend werden sturzgefährdete, unruhige Bewohner tagsüber mobilisiert, wie es in der Fachsprache heißt. Doch diese Mobilisation beschränkt sich oft auf den Transfer aus dem Bett in einen Rollstuhl, in welchem sie widerum mittels Gurten oder anderer mechanischer Vorrichtungen festgehalten werden.  Wer in seinem Stuhl unruhig zappelt und loszukommen versucht, muss mit einer Erhöhung der Medikamentendosis rechnen. In der Regel kommen für diese übliche Praxis der Ruhigstellung Neuroloptika zum Einsatz.

Um Pflegebedürftige vor derartigen Freiheitsbeschränkungen zu schützen, hat der Gesetzgeber mit dem § 1906 BGB ein betreuungsrechtliches Genehmigungsverfahren vorgesehen. Demzufolge muss in allen Fällen, in denen eine gesetzliche Betreuung eingerichtet ist,  das Betreuungsgericht „Freiheitsentziehende  Maßnahmen“(FeM) genehmigen. Ansonsten macht sich die Einrichtung strafbar. Das Gesetz gilt übrigens auch für Krankenhäuser, ambulante Pflegedienste und Angehörige in der häuslichen Pflege.

In der Praxis verhält es sich allerdings zumeist so, dass bei  „erhöhter Sturzgefahr“ oder einer anderen „Selbst-/Fremdgefährdung“, Angehörige/Betreuer von der Einrichtung bedrängt werden einen Antrag auf FeM zu stellen. Ihnen wird erklärt, nur durch eine bestimmte freiheitsentziehende Maßnahme, den Gefährdeten ausreichend schützen zu können. Anderenfalls würde man keine Verantwortung übernehmen. Einrichtungen beziehen sich dabei auf einschlägige Rechtsurteile, wonach Heime zu Schadensersatz verklagt wurden, die derart gängige Schutzvorkehrungen nicht getroffen hatten.  Dem Betreuer bleibt im Grunde nur die Wahl, entweder ein Heim mit einem alternativen Pflegekonzept zu finden, das Risiko eines Sturzes auf die eigene Kappe zu nehmen oder den Antrag auf FeM beim Betreuungsgericht zu stellen. Da noch nur verhältnismäßig wenige Einrichtungen Alternativen zur Fixierung/Ruhigstellung eingeführt haben, steht dieser Ausweg selten zur Verfügung. Um den zweiten Weg zu wählen, fehlt zumeist das rechtliche Hintergrundwissen.  Ein Laie lässt sich leicht einschüchtern, weil ihm die passenden Argumente fehlen und er so befürchtet, im Schadensfalle wegen Nichtbeachtung des Expertenrates belangt werden zu können.

Diesem Dilemma sind im Wesentlichen die hunderttausendfachen täglichen Fixierungen in unseren Pflegeheimen geschuldet. In fast allen Fällen gäbe es   Alternativen! Diese werden jedoch nicht wahrgenommen, solange Heimbetreiber darauf vertrauen können, dass die Gerichte  branchenübliche Fixierungen  bedenkenlos genehmigen. Und warum sollten Heime mehr Nachtwachen einplanen, wo doch systematische Ruhigstellung/Fixierung von Heimbewohnern sogar mit richterlicher Genehmigung unterstützt wird? 
Bis zum 27.12.2011  gab es in Deutschland m.W. keinen Fall,  in dem ein Richter die Fixierung eines Bewohners untersagt hat. Per Eilverfügung entschied  das Sozialgericht Freiburg zu Gunsten einer Bewohnerin, indem es eine individuell angemessene Betreuung forderte,  einschließlich der Kostenübernahme.  Die von der Einrichtung als unerlässlich angesehene nächtliche Fixierung wurde als zu großer Eingriff in die Grundrechte auf menschenwürdige Existenz gewertet. Bei solchen Erwägungen haben sich die Gerichte bislang stets von Kostenargumenten leiten lassen.  Insofern könnte diese Verfügung ein Meilenstein auf dem Weg zu menschenwürdigen Betreuungsformen sein.  Mehr zu diesem  „Highlight der Rechtsprechung“  finden Sie im Artikel der Badischen Zeitung Bemerkenswert darin u.a. die Aussage von Prof. Thomas Klie: „Wir haben es bislang hingenommen, dass die Ausstattung eines Heims die Grenzen der Freiheit seiner Bewohner bestimmt“. Mit dem „Wir“ muss sich der Pflege-SHV nicht angesprochen fühlen. Denn wie keine andere Organisation setzen wir uns dafür ein, dass diese Praxis eben gerade nicht hingenommen wird.
Genaueres über diesen Beschluss und Rechtsstreit finden auf der Homepage der Anwaltskanzlei, die die Bewohnerin vertritt. Als positives Beispiel hervorzuheben, ist außerdem die Haltung des Betreuers dieser Frau. Ein solcher Einsatz ist  einmalig.

Fixierungen und medikamentöse Ruhigstellung können in den allermeisten Fällen vermieden werden. Das beweisen uns Einrichtungen, die seit vielen Jahren erfolgreich auf alternative Konzepte setzen.  Voraussetzung für den Erfolg eines solchen Konzeptes ist an erster Stelle, die Haltung der Heimleitung. „Bei uns wird kein Bewohner fixiert.“, heißt es z.B. im Leitbild der Seniorenresidenz Elbtalaue. Wir konnten uns davon überzeugen, dass dem tatsächlich so ist. Stattdessen setzt das Heim auf die Förderung der Beweglichkeit seiner Bewohner, damit diese möglichst lange, sicher auf ihren Beinen, frei in Haus und Umgebung herumlaufen können.  Sicher auf ihren Beinen bleiben selbst Menschen mit hochgradiger Demenz, deren Bewegungsdrang nicht jahrelang mit den üblichen Medikamenten unterdrückt wird.

Dank ReduFix liegen inzwischen diverse wissenschaftliche Daten zur Fixierung vor, die die Pflegebranche aufhorchen lässt und Alternativen in den Blick rückt.  Deutlich zeigt das Team ReduFix  außerdem die Gefahren körpernaher Fixierung, welche bei der Abwägung viel zu wenig bedacht werden. Immer wieder hört man von Heimbewohnern, die unter der Fixierung qualvoll zu Tode kommen. Strangulationen, ausgekugelte Gelenke, schwere Quetschungen und Abschnürungen, werden in der Praxis gerne vertuscht. Da es sich um alte Menschen handelt, laufen Aufklärungsbemühungen von Angehörigen regelmäßig ins Leere. Nur in ganz spektakulären Fällen, die durch die Presse gehen, macht man sich die Mühe, zu prüfen, ob die vorgeschriebenen engmaschigen Kontrollen bei fixierten Patienten/Bewohnern tatsächlich erfolgt sind.

So begrüßenswert das Projekt ReduFix ist, uns gehen die Empfehlungen nicht weit genug.  Diese sind viel zu sehr der gängigen Pflegepraxis und den Rahmenbedingungen geschuldet.  Wie man früher die Entstehung von Druckgeschwüren (Dekubitus) hingenommen hat, werden heute vermeidbare Fixierungen hingenommen. Denen, die keine andere Lösung sehen, empfehle ich, sich dieser Erfahrung einmal selbst zu unterziehen.  AltenpflegeschülerInnen, die das ausprobiert haben, einpaar Stunden körpernah fixiert im Bett oder Stuhl zu verbringen, hatten Schweißausbrüche. Dabei waren diese voll orieniert und sie wussten, bald wieder erlöst zu werden. Wie muss es jedoch denen ergehen, die nicht wissen was hier mit ihnen geschieh und die keinen Ausweg aus dieser Lage sehen? Es ist schlicht  unmenschlich, was hier geschieh und tötlich obendrein.  Menschen die fixiert werden, verlieren binnen kurzer Zeit ihren Lebenswillen, sie bauen ab – körperlich wie geistig – ziehen sich innerlich zurück und sterben.

Am Beispiel meines Schwiegervaters will ich die tödliche Wirkung, lebensrettender Fixierung, kurz veranschaulichen. Dieser verstarb mit 96 Jahren in einem Krankenhaus in Hannover, an Altersschwäche – wie es im Totenschein hieß. Abends vorher besuchte ihn meine Schwiegermutter, sie rief mich anschließend besorgt an, nicht weil sie dachte, dass er stirbt, sondern weil sie sich fragte, ob sie sich richtig verhalten hatte. Drei Tage vorher hatte sie ihn überredet ins Krankenhaus zu gehen, da sie sich wegen seines körperlichen Abbaues sorgte.  Im Krankenhaus – zumal er Privatpatient war, wurde er dann zunächst durchldiagnostiziert, einschließlich Darmspiegelung, was ihm sehr zu setzte. Er wollte das alles nicht, wollte keine Infusionen, hatte jedoch nicht mehr die Kraft sich standhaft dagegen zu wehren. „Wir päppeln Sie wieder auf“, sicherte der Professor ihm tags vorher bei der Visite noch zu. Das ungewohnt hohe Krankenhausbett sorgte dann in der zweiten Nacht zusätzlich für einen Sturz. Zwar hatte er sich nichts gebrochen, dennoch wurden nun fürsorglich Gitter angebracht. Damit er nicht zur Toilette braucht und wegen der Flüssigkeitsbilanz, legte man einen Katheter. Und, weil er seit Wochen schon kaum noch etwas essen konnte/wollte erhielt er außerdem noch eine Magensonde.  Diese hat er jedoch sofort wieder gezogen. Auch die Infusion musste mehrfach neu gelegt werden, da er immer wieder aufzustehen versuchte. Als meine Schwiegermutter ihn an diesem letzten Abend besuchte, lag er in seinem 1.Klasse Einzelzimmer-Bett, mit hochgezogenem Gitter. Beide Arme hatte man mit Manschetten fixiert, so dass er sich nicht einmal an der Nase kratzen konnte. Er flehte sie an: „Mach mich hier los, ich will nach Hause“. Sie suchte dann nach einer Schwester. Diese erklärte ihr, die Manschetten seien zu seiner eigenen Sicherheit unverzichtbar. Denn sonst würde er sich die Infusion ständig ziehen. Die brauche er jedoch, weil er schon stark ausgetrocknet sei.  Selbst  hochbetagt und unsicher, traute sich seine Frau nicht, ihn von den Fesseln zu befreien und mit zu nehmen. Schweren Herzens fuhr sie nach Hause. Früh morgens klingelte dann ihr Telefon, um sie zu informieren, dass ihr Mann leider in der Nacht verstorben sei.   Dieser Stress hat ihm ganz offensichtlich den Rest gegeben.

Solche Formen der Sicherungsverwahrung sind das Ergebnis einer Medizin und Pflege, die sich statt an den Bedürfnissen des Menschen, an unreflektierten Standards orientiert.   Fixierungen sind in jedem Falle abzulehnen und zu verhindern, in denen durch eine  angemessene menschliche Begleitung und sonstige Alternativen, Schäden abgewandt werden können.  Insofern begrüßen wir ausdrücklich die Haltung des Richters aus Freiburg, der in einer Eilverfügung vor wenigen Tagen klar gelegt hat, dass die Heimbewohnerin nicht fixiert werden darf, sondern eine ausreichende menschliche Begleitung sicher gestellt werden muss.

Im übrigen zeigen uns Heime, die bewusst auf Fixierung verzichten, dass dies weniger eine Frage des Personalschlüssels ist, als vielmehr eine Frage der Personalauswahl bzw. Schulung. Der rasche und einfache Griff in den Topf freiheitsentziehender Maßnahmen,  hängt wesentlich damit zusammen,  dass die Mehrzahl der Pflegekräfte nichts anderes kennen gelernt hat. Bewohner die sich nicht in die Ordung des Heimalltags einfügen, schlecht lenkbar sind, unruhig nach Auswegen aus ihrer unglücklichen Lage suchen, werden dem Arzt gemeldet. Weil dieser auch nichts anderes kennt, greift er in gewohnter Manier zum Rezeptblock oder stellt eine Fixierungsverordnung aus. Mitunter reicht schon die telefonische Mitteilung um  diese anzufordern. Dabei müssen Angehörige und Betreuer  noch dankbar sein, überhaupt informiert zu werden. Laut ReduFix Erhebung liegt  bei einem Bruchteil der Fälle das  vorgeschriebene betreuungsrechtliche Genehmigungsverfahren zu Grunde (von hochgerechnet 400.000 FeM in 2009  lag nur bei 85.000 eine richterliche Genehmigung vor). Immerhin hat die Kampagne ReduFix dafür gesorgt, dass der Fixierung nun auch seitens Heimaufsicht und MDK größere Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird. Vor allem was die körpernahen Fixierungen betrifft. Dennoch erfahren wir regelmäßig von Angehörigen/Betreuern, wie man zufällig beim Blick unter die Tagesdecke einen Fixiergurt entdeckte: „Stellen Sie sich vor, meine Schwester hatte gestern blutunterlaufene Striemen am Hals und an der Brust. Angeblich habe sie sich diese mit dem Bettuch selbst zugefügt. Ich denke, dass die die Nachts wieder fixieren, vielleicht ja auch nur mit einem Bettuch.“

Nur wenige Angehörigen wissen überhaupt, dass selbst Bettgitter, die des nachts hochgezogen werden, genehmigungspflichtige FeM sind.  Völlig im Dunkeln liegt die medikamentöse Ruhigstellung. Diese ist  zwar grundsätzlich auch  genehmigungspflichtig. Doch da der Arzt, der die Diagnose stellt und die Medikation anordnet, zugleich als Sachverständiger fungiert, dürfte es noch dauern, bis Richter dieser menschenrechtsverletzenden Praxis Einhalt gebieten.  Angehörige/Betreuer die nicht nachfragen, erfahren selten welche Medikamente in welcher Dosis  angeordnet sind. Geschweige denn, dass ein Beratungsgespräch über Risiken und Nebenwirkungen stattfindet oder gar Alternativen aufgezeigt werden.

Hier muss sich noch sehr viel ändern.

Adelheid von Stösser,                                                                              den 04.01.2012


Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch meine Stellungnahme an Betreungsbehörde und Gericht – im Falle der Elfriede H.  Die Antwort des Richters erforderte eine  weitere Erklärung.  Damit konfrontiert legte der Berufsbetreuer sein Amt nieder, woraufhin  die Schwester als Betreuerin einsetzt wird. Diese veranlasst umgehend die Verlegung in ein besseres Heim. Dort wird Elfriede H zwar nicht mehr fixiert und sediert, doch scheint ihr Lebenswille gebrochen. Als sie noch aufstehen wollte und sich gegen die Fesselung wehrte, durfte sie nicht. Nun bedarf es sehr viel größerer Anstrengungen sie aus der Resignation herauszuholen, wenn das überhaupt noch gelingen kann.

ZDF-Zoom 10.10.12: Die Fernsehsendung „Gefesselt im Heim“ von Jens Hahne  ist mit Unterstützung des Pflege-SHV zustande gekommen. Unter anderem wird dort auch das Beispiel der Elfriede H, gezeigt.

Emfehlenswerte Links und Informationen:

Eure Sorge fesselt mich.  Internetseite und DVD mit Empfehlungen zu Alternativen, herausgegeben vom Bayerischen Sozialministerium

ReduFix: Reduktion von Fixierungen. Ein vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) gefördertes Projekt mit nachhaltig positiver Wirkung.  Positiv daran ist auch, dass diese Forschung nicht wie sonst üblich mit dem Abschlussbericht endet.  Von allen Alternativen die im Rahmen dessen vorgestellt und entwickelt wurden, möchte ich die Idee des Rooming-In für Demenzkranke hervorheben. Bis zur Eingewöhnung in die neue Umgebung sollte eine Bezugsperson im Kranken- oder Bewohnerzimmer mit einquartiert werden. Das würde zugleich die Pflege entlasten.  Angehörige/ Vertrauenspersonen sollten soweit als möglich integriert und beteiligt werden.

Werdenfelser Weg. Ein Landkreis macht mobil, zur verantwortungsvollen Reduzierung von Fixierungen.    Auch andere folgen diesem Beispiel, siehe Meldung vom 5.3.2012: Pflege ohne Gitter und Gurte im Landkreis Rosenheim.

Münsterland – Diakonie: Pflege soll entfesselt werden, Juni 2012

Leitlinien FEM – Mehr Freiheit wagen. Eine Initiative zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen in der beruflichen Altenpflege.

Freiheitsberaubung aus Fürsorge, Dissertation von C.Schmidt – 2010. In dieser Arbeit  werden die rechtlichen Aspekte freiheitsenziehender Maßnahmen umfassend, fundiert und verständlich beleuchtet.

Auch das Deutsche Ärzteblatt setzt sich im Jan.2012 kritisch mit den FeM auseinander.

Filmbeitrag in KONTRASTE, vom April 2012: Festgeschnallt und ausgeliefert

Fixierung, Themenseite im Pflege-Wiki – kurz und klar die wichtigsten Hintergrundinformationen. Hier finden Sie außerdem Links oder Textauszüge zu  Grundsatzurteilen.