In seinem Buch, Leben bis zuletzt, beschreibt Prof. Dr. med. Sven Gottschling: Was wir für ein gutes Sterben tun können. Vor allem sollten sich Ärzte, Pflegende und Patienten von bestimmten Mythen verabschieden, die Schuld daran tragen, dass Menschen am Lebensende selten die medizinische und pflegerische Hilfe erfahren die sie erhoffen.
Mythos 1: Sterben und Tod sind leidvoll und schmerzhaft.
Als Palliativmediziner und Schmerztherapeut, Chefarzt an einem Uniklinik im Saarland, konnte Gottschling die Lebensfreude sterbenskranker Menschen erfahren, nachdem es ihm bzw. dem Palliativteam gelungen war, Schmerzen, Ängste und Leiden zu nehmen oder auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Wie dies gelingen kann, wird gut nachvollziehbar beschrieben. Neben der Wahl des passenden Schmerzmittels kommt es vor allem auf die Haltung des Arztes und Fachpersonals an. Mich beeindruckt vor allem die Offenheit mit der Gottschling seine eigenen Gefühle im Umgang mit Sterbenden und Angehörigen beschreibt. Es ist also kein steriles Sachbuch, sondern ein persönliches, menschliches Plädoyer für einen anderen Umgang mit Betroffenen und ein anderes Verständnis von Sterben und Tod. Hier ein Zitat:
Auch ich habe keine Antwort auf das WARUM der Patienten. Was ich sagen kann, hat schon Herbert Grönemeyer ganz treffend besungen: „Das Leben ist nicht fair“.
Auf der anderen Seite war ich schon so oft beim Sterben eines Menschen dabei, und diese Atmosphäre und diese Veränderung, die dabei im Raum spürbar werden, sind ganz besondere Momente, und so bin ich mir auch sicher, dass alles, was einem Menschen als Wesen ausmacht, nicht einfach so, wie durch einen Fingerschnips, erlischt. Wenn ein Mensch verstirbt, gibt es zum einen den Körper, der dann wirklich nur noch eine Hülle ist, aber für einige Augenblicke schwebt da noch mehr im Raum. Ich persönlich empfinde das ganz subjektiv als körperlich spürbar. Nennen Sie es Seele, nennen Sie es Geist, nennen Sie es, wie Sie wollen, aber ich glaube, dass dieser Teil von uns, der uns als Individuum so einzigartig macht, auf irgendeine Art und Weise unsterblich ist, weswegen der Moment des Sterbens bei aller Dramatik und Traurigkeit für mich auch ein Moment ist, bei dem ich ein Stück weit eine tiefe innere Ruhe und auch Zufriedenheit und Dankbarkeit empfinde.“
Mythos 2: Ärzte als gottgleiche Lebenszeitvergeber
Hier schreibt Gottschling seinen Arztkollegen ins Gewissen, die je nach Diagnose eine zeitliche Prognose über die bestenfalls zu erwartende Lebenszeit abgeben. Seine Erfahrung ist vor allem die, dass Ärzte mit Angaben wie, „Ich gebe Ihnen noch drei Monate“, nicht nur regelmäßig falsch liegen, sondern unnötig Panik und Ängste auslösen. Es ist wichtig dem Kranken keine falschen Hoffnungen zu machen, es ist anmaßend und unprofessionell die Krankheitsentwicklung und den Todeszeitpunkt vorraussagen. Kritisch geht der Autor auch auf bestimmte Regelungen ein, die beispielsweise von einem palliativ Patienten erwarten, innerhalb des zeitlichen Rahmens zu versterben, den die Kassen für Palliativbetreuung übernehmen. Auch uns wurde erst kürzlich ein Fall bekannt, bei dem ein „austherapierter“ älterere Mensch mit Metastasen und Schmerzen im ganzen Körper von der Palliativstation einer Klinik in ein Pflegeheim verlegt werden musste, weil der Kasse diese Behandlung angeblich nicht länger zahlen könne.
Mythos 3: Nahrung und Flüssigkeit sind Lebenserhaltung
Regelmäßig sehen sich Angehörige und gesetzliche Vertreter*innen hochgradig pflegebedürftiger Menschen mit Schuldzuweisungen konfrontiert, sollten sie einer künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr am Ende des Lebens nicht zustimmen. Angesichts der Sterbesituation von alten Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern, sind die aufklärenden Erläuterungen in vorliegendem Buch besonders hervorzuheben.
„….Richtig fürchterlich wird es aber erst, wenn bei aller Schwere, die eine solche Situation ohnehin schon mit sich bringt, auch noch von fachlicher Seite die moralische Keule geschwungen wird: „Wie können Sie Ihre Mutter verhungern und verdursten lassen?“ Wenn Ärzte so etwas aussprechen trifft es die Angehörigen mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Man fühlt sich zutiefst beschämt und hinterfragt, wie man überhaupt auf so eine grausame Idee kommen könne.“
Selbst bei sehr alten Menschen, deren körperlicher Verfall unverkennbar ist und die deutlich signalisieren, dass sie keinen Hunger mehr haben, die nur auf gutes Zureden noch wenige Schlucke trinken, sehen sich Ärzte und Pflegeheime oftmals verpflichtet, eine bestimmte Flüssigkeitsmenge „einzutrichtern“. Gottschling geht auch auf die Unsitte von Zwangsernährung bei Menschen mit Demenz ein. Er schreibt:
„Wir wissen, dass fast alle Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Erkrankung und einem schlechten Allgemeinzustand kein Hungergefühl mehr haben. Wer aufgrund seiner Erkrankung unter Übelkeit leidet oder bereits so geschwächt ist, dass er keine Kraft mehr zum Essen hat, wird Ihnen sehr glaubhaft vermitteln können, dass er keinen Hunger und somit auch kein leidvolles und damit behandlungsbedürftiges Symptom hat. Man darf es durchaus auch als Willensbekundung von nicht mehr mitteilungsfähigen Menschen, zum Beispiel mit Demenz, werten, wenn diese angebotene Nahrung zurückweisen (den Mund schließen, wenn der Löffel kommt, Nahrung wieder ausspucken usw.)
Der Autor bezieht sich auf Studien, die sowohl bei alten Patienten mit Demenz, als auch bei Tumor- oder Aidspatienten am Lebensende zu folgendem Ergebnis kommen:
Unabhängig von der Grunderkrankung und unabhängig vom Geisteszustand der Patienten bringt weder eine künstliche Ernährung durch einen Bauchdeckenschlauch in den Magen noch eine künstliche Ernährung über die Vene eine Verbesserung der Lebensqualität, geschweige denn des Ernährungszustands des Patienten, noch der Überlebenszeit. Im Gegenteil! Gerade bei an Demenz erkrankten Patienten führt die Ernährung über eine Sonde oftmals zu einer Zunahme von Unruhezuständen (zum Beispiel durch Bauchschmerzen, wegen nicht gut vertragener Nahrung), die dann wiederum in der Folge zur Selbstentfernung der Sonde durch den Patienten führt, der sich den vermeintlich schmerzauslösenden Übeltäter herausreißt. Auf Verzweiflung werden diese Patienten dann aufgrund von Selbstgefährdung sogar noch fixiert und damit weiter traumatisiert.“
Nicht zu vergessen, die Traumatisierung von Angehörigen die den Sterbenden vor derartigem bewahren wollen, sich jedoch nicht durchsetzen können, gegen die Fachleute. Liegt keine eindeutige Patientenverfügung vor, sehen sich selbst Richter berufen, für Lebenserhaltung zu stimmen, auch wenn dies einer Verurteilung zur Leidensverlängerung gleich kommt. Sterbeerleichterung ist keine Option.
„Gerade weil das Thema Ernährung und Flüssigkeitsgabe, Essen und Trinken emotional so hoch besetzt ist, würde ich mir hier bei Ärzten, Pflegekräften und anderen Professionellen deutlich mehr Fachwissen wünschen.“ Diesem Wunsch aus der Feder von Prof. Gottschling, kann sich wohl jeder anschließen, dem es nicht egal ist, wie Menschen sterben.
Nicht weniger bemerkenswert sind die weiteren Mythen:
4. Schmerzmittel machen süchtig
5. Man muss sich zwischen Lebenszeit und Lebensqualität entscheiden und
6. Man darf einem Menschen nicht die Hoffnung nehmen.
Sie werden erstaunt sein, von der befreienden Wirkung, die bereits beim Lesen der anderen Sichtweise dieses Arztes entsteht. Auch die weiteren Kapitel dieses insgesamt herausragenden Buches, sind emotional und fachlich nachvollziehbar, zumindest für Leser, die beruflich mit diesem Bereich befasst sind.
Als Pflegefachkraft beschäftige auch ich mich seit Jahrzehnten mit Fragen rund ums Sterben. Während meiner Zeit als Lehrerin für Pflegeberufe, habe ich die Bücher von Elisabeth Kübler-Ross als Pflichtlektüre an unserer Schule eingeführt und anderen empfohlen. Bis heute haben diese nichts an Wert verloren. Nachhaltigen Erfolg ist unbedingt auch Sven Gottschling mit seinen Büchern zu wünschen. Als SPIEGEL Bestseller-Autor hat sich dieser Arzt bereits einen Namen gemacht. Die Fachwelt zu einem Umdenken und die Politik zu einem Umlenken zu bewegen, dürfte jedoch schwierig sein, zumal hier oftmals an den falschen Stellen gespart wird. Auch sein neues Buch „Schmerz los werden“ zeigt, warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich helfen würde. Alle Professionelle an den Kranken- und Pflegebetten sollten diese Bücher lesen und beherzigen. Aber auch Betroffene, Angehörigen, Bevollmächtigte sowie Betreuer*innen und Betreuungsrichter*innen, sollten über ein Grundwissen verfügen um Menschen unnötige Beschwerden und ein qualvolles Ende ersparen zu können. Wie wollen diese zum Wohle des Kranken entscheiden, wenn Sie wichtige Zusammenhänge nicht kennen?
Hinweis: Sven Gottschling hat die Bücher nicht alleine geschrieben. Ohne Lars Amend wären diese vermutlich nicht zustande gekommen. Darum gebührt auch ihm Anerkennung und Dank für diese richtungsweisenden Schriften.
In diesem Youtube -Video stellt Gottschling sein Buch selbst kurz vor.
Hier beschreibt er, was beim Sterben passiert.