Pflegespezial bei Maybrit Illner mit Lösungsansätzen

Pflege kann gerettet werden! Und zwar durch einen Systemwechsel,  der die  negative Dynamik in eine positive  umwandelt.  Dieses Fazit lässt sich aus den Beiträgen der Sendung  maybrit illner spezial vom 24.05.2018 ziehen.   Mit Blick auf Jens Spahn, der als Bundesgesundheitsminister seit kurzem das Heft in der Hand hält, appellierte  Martin Bollinger in seinem Schlusswort an den Mut zu einem grundlegenden Systemwechsel, sowie an Angehörige und Pflegekräfte, den Mumm zu haben, die Grundrechte einzufordern.    Wenn weiter nur an den Symptomen geschraubt wird,  mit immer neuen Pflegeergänzungsgesetzen, wo soll das Enden?

Stattdessen sollten Regelungen abgestellt werden, die nur unnötiges Papier erzeugen und die falschen Signale setzen.  An erster Stelle die Pflegenoten. Sie gehören in die Tonne, erklärt Martin Bollinger.  Auch die  Pflegegrade setzen falsche Anreize und sollten schleunigst wieder abgeschafft werden.  In den Heimen könnten diese unbürokratisch sofort ersetzt werden, indem ein Mittelwert errechnet wird, für den Geldbetrag den die Pflegekasse übernimmt.    Für Menschen die zu Hause gepflegt werden, sollten die Leistungen der Kassen individuell so erfolgen, dass allen geholfen ist und niemand ins Heim muss, weil die Mittel  für die häusliche Betreuung fehlen.  Die bestehenden  Angebote gehen an der Realität und dem Bedarf in häuslichen Pflegesituationen oft völlig vorbei, erklärten die zur Sendung geladenen Angehörigen.  Kornelia Schmid, die als pflegende Angehörige u.a. eine  Gruppe bei Facebook  mit 6.000 Teilnehmern leitet,  setzt sich vor allem dafür ein, dass Angehörige aus der Rolle der Bittsteller herauskommen und sich die notwendige  Hilfen selbst einkaufen können.   Ihr Vorschlag zur Abhilfe ist die Einführung eines  Entlastungsbudgets.

Ilse Biberti, die ihren Beruf aufgab um die Eltern zu pflegen, erklärt, wie sie an dieser Aufgabe gewachsen, anschließend erst einmal zusammengebrochen und insgesamt zu einem anderen Menschen wurde.  Auch in ihrer Situation passten die gesetzlich vorgesehenen Entlastungsangebote nicht. Weder Tages- noch Verhinderungspflege noch Kurzzeitpflege.  Sie musste sich selbst einen Helferkreis suchen und konnte auch keinen ambulanten Pflegedienst in Anspruch nehmen, weil sie auf das  Pflegegeld angewiesen war.  Denn wenn ein Pflegedienst   täglich für 25 Minuten kommt, geht die gesamte Pflegekassenleistung drauf.  Für den Angehörigen, der die verbleibenden 23 Stunden und 35 Minuten da sein muss, bleibt an Pflegegeld dann nichts mehr übrig.

Steht kein Angehöriger zur Verfügung, der sich rund um die Uhr   kümmern kann, bleibt Familien oft keine andere Wahl als eine „Polin“ zu beschäftigen.  Von den geschätzt 400.000 osteuropäischen Helfer/innen seien rund 90 Prozent ohne Papiere, also  illegal in den Haushalten beschäftigt, erklärt Renata Föry.  Seit 14 Jahren vermittelt ihre Firma Betreuungskräfte. Da diese legal beschäftigt sind, kosten sie zwischen 1.500 und 3.000 monatlich.  Das können sich die wenigsten alten Menschen leisten, zumal es für diese Hilfsangebote keine Leistungen aus der Pflegekasse gibt und auch die Sozialkasse nicht in Anspruch genommen werden kann, wie es bei der Pflege im Heim der Fall ist.  Der Staat toleriert die Notlösung mit den zigtausend illegal beschäftigten Haushaltshilfen aus Billiglohnländern.  Ein Missstand, der abgestellt werden könnte, wenn die häusliche Pflege finanziell mit der stationären Pflege gleichgestellt würde oder  das von Kornelia Schmid  favorisierte  Entlastungsbudget dafür sorgen würde, dass Familien sich ihre Hilfen selbst einkaufen können.   Heute werden Angehörige oft wie  Bittsteller von den Kassen behandelt, die um jede Leistung kämpfen und ordnerweise Schriftverkehr bewältigen müssen. Abgesehen davon, dass viele Leistungen  in der Praxis nicht zur Verfügung stehen oder im konkreten Falle keine Entlastung bringen.  Jeder Mensch,  jede Situation, ja, jeder Tag ist anders,  weiß auch Bettina Michels,  die Tochter des Rudi Assauer zu berichten. Als Angehörige  muss man sich einlassen und hineinwachsen in die Situation.

Der Gesundheitsminister räumt zwar ein, dass der Überblick über die  Bausteine der Pflegeversicherung verloren gehen kann, verweist andererseits jedoch auf die  finanziellen Leistungen des Staates.  Deutlich verwehrt er sich, dass die Politik nichts tue. Alleine in den letzten 5 Jahren  seien doch 12 Milliarden Euro mehr in die Pflege geflossen.
(An dieser Stelle fehlte der Einwand, dass davon vielleicht nur ein Bruchteil den Betroffenen tatsächlich zu Gute kommt.  Schließlich haben wir es bei der Pflege mit einem Markt zu tun, der von denen beherrscht wird, die an den Schaltstellen sitzen oder  wissen wie man es anstellt, um an den Kuchen zu kommen.)
Während der Gesundheitsminister zwischen „Wir haben schon sehr viel getan – aber es muss einiges verbessert werden.“ zu beschwichtigen versuchte, forderte die Vertreterin der Opposition, Katja Kipping, Herrn Spahn auf, ebenso forsch  und angriffslustig  für die Pflege zu streiten, wie er es jüngst in anderen Bereichen getan hat.

Tatort Pflegeheim: Der zweite Block der Sendung befasste sich mit der stationären Altenpflege.  Ausgehend von Skandalfällen die durch die Medien gingen, wurde herausgestellt, dass es sich um die Spitze des Eisbergs handelt und nicht um  Einzelfälle.    Auch Walter Keil hat erlebt, wie es im Heim zugeht.  Seine Mutter hatte sich das Heim in Hannover, eine Einrichtung der Diakonie, selbst ausgesucht, in der Überzeugung, dass dort christliche Werte gelebt werden.  Anfangs sei man auch ganz zufrieden gewesen,  jedoch habe sich die personelle Situation so verschlechtert und auch die Haltung, dass er und seine Geschwister  die Mutter keine Stunde mehr alleine dort lassen wollten.  In der  letzten Zeit vor ihrem Tod, habe man sich abgewechselt, damit immer einer bei ihr war.
Seit 18 Jahren ist  Martin Bollinger als Angehöriger und beruflich mit Altenpflege befasst.  Er kann verstehen, warum viele schon während der Ausbildung das  Handtuch werfen. Wer keine Chance sieht in diesem Beruf so arbeiten zu können, wie er es gelernt hat und richtig findet, den hält es dann auch nicht lange.  Was in der Pflege schief läuft, lässt sich nicht  mit Geld aus der Welt schaffen.  Der Fehler liegt im System.

Heime müssen keineswegs immer die schlechtere Alternative sein.  Diese Erfahrung machte  Christiane Moll, die auch zunächst versucht hatte, sich selbst um ihren an Demenz erkrankten Vater zu kümmern.  Sie berichtet von positiven Erfahrungen mit einer Einrichtung der BeneVit Gruppe, die das sog. „Hausgemeinschaftskonzept“ umsetzt. Angehörige kommen dort nicht nur zu Besuch, sie sind Teil der Gemeinschaft und übernehmen regelmäßig  bestimmte Aufgaben. Gute Heime erkennt man unschwer an der Lebendigkeit die dort herrscht.

Nicht zuletzt ging es in der Sendung um den  Personalmangel  und die Stellenschlüssel in der Pflege.  Alexander Jorde überraschte hier mit einem Vorschlag zur sofortigen Abhilfe, der bisher noch in keiner Diskussion gemacht wurde. Sein Vorschlag:  Krankenhäuser, die Pflegestellen nicht besetzen können und zu wenig Personal haben, sollten eine oder mehrere Stationen schließen. Das Personal dieser Stationen sollte auf die anderen Stationen verteilt werden, so dass überall genügend Personal ist, um  die Patienten ohne Hektik versorgen zu können.    Diese Verbesserungen der Arbeitsbedingungen würden dazu führen, dass Pflegekräfte aus der Teilzeit zurückgewonnen werden können und  länger im Beruf bleiben.  Auch in den Heimen führe kein Weg daran vor, Wohnbereiche zu schließen, und das vorhandene Personal so einzusetzen, dass der Personalschlüssel erfüllt ist, ergänzt Martin Bollinger.   Das setzt jedoch voraus, dass  bundesweit ein Mindestpersonalschlüssel festgelegt wird, dessen Einhaltung leicht überprüft werden kann.  Es sind vor allem die Arbeitsbedingungen, Stress und Unzufriedenheit, weshalb Pflegekräfte in Teilzeit gehen oder nach wenigen Jahren aussteigen, sind sich alle einig.  Indem man die Zufriedenheit fördert, kann man Pflegekräfte im Beruf halten und aus der Teilzeit holen.

Ein wichtiger Aspekt, auf den nicht näher eingegangen wurde, ist die Frage: Wie man Pflegebedürftigkeit  verhindern kann.  Denn nach unserer Erfahrung  erzeugt das Gesundheitssystem in unbekannt hohem Maße  Pflegebedürftigkeit.   Siehe Beispiel Kurzzeitpflege, Herr Bollinger hat das anschaulich erklärt.

Das Ende dieser 80 minütigen Runde  kam dann etwas überraschend, ohne nochmals die wichtigsten Ergebnisse zusammen zufassen.   Herr Spahn sieht die Notwendigkeit, ein Gesamtpaket zu schnüren. Er wollte sich jedoch auf nichts festlegen lassen. „… lieber mache ich verlässliche Zusagen als haltlose Versprechen.“, erklärte er.  Frau Kipping erklärte, die Dimension verstanden zu haben und seitens der Opposition den Druck auf die Regierung erhöhen zu wollen.


Vorlage der  Pflegeethik Initiative Deutschland e.V :   Systemwechsel in der Pflege