Nicht Leben und nicht Sterben dürfen

Um das Sterben alter und kranker Menschen, an einer durch Infektion mit Covid-19 ausgelösten Lungenentzündung zu verhindern, wird ihr Leben massiv eingeschränkt. Kranke und Alte dürfen nicht mehr besucht werden. Sie dürfen sich auch nicht untereinander treffen. Ambulante Pflegedienste sind hoffnungslos überfordert, auch weil die 24-Stunden Hilfen aus Osteuropa wegen Grenzschließungen wegfallen.  Davon betroffen sind geschätzt 300.000 pflegebedürftige, überwiegend altersverwirrte Menschen. Wer kümmert sich jetzt um diese? Müssen sie jetzt alle auch noch in die Heime, zu den rund 1.200.000 Menschen, deren Versorgung dort gerade auf reine Lebenserhaltung heruntergefahren wurde. Das Personal in den Einrichtungen war schon vor Corona kaum in der Lage, die körperliche Grundversorgung sicherzustellen.

Menschlicher Trost und Nähe sind wegen Ansteckungsgefahr untersagt. Eine Altenpflegerin beschreibt auf Facebook (25.03.2020) die für alle völlig absurde Lage:

„Frau X, halbseitengelähmt muss zur Toilette. Nach dem kurzen Versuch sie per Telepathie zu entkleiden, damit sie ihre Blase entleeren kann, ignoriere ich meine Abstandsgrenze und komme dem Menschen wieder mal sehr nah. Ich wasche/dusche täglich Menschen, helfe beim Zähneputzen, kämme die Haare, ziehe ihnen Kompressionstrümpfe an.  …. Den empfohlenen Abstand von zwei Metern einzuhalten, unmöglich. Versucht mal einem an Demenz erkrankten Menschen zu erklären, dass er einem nicht zu nahe kommen darf.
Die psychische Belastung für Bewohner und Pflegepersonal ist enorm hoch. Könnt ihr euch auch nur einen Moment vorstellen, was das auch bedeutet?
Sie benötigen Trost, eine Schulter zu Anlehnen, eine Ablenkung. Ganz schlimm ist es für Menschen die an Demenz erkrankt sind, und jeden Tag aufs Neue nicht verstehen wo ihre Kinder sind. Sie haben Angst machen sich Sorgen, wollen auf die Suche gehen…..“

Rund 70 Prozent der pflegebedürftigen, alten Menschen in den Heimen und zu Hause sind deshalb auf Hilfe angewiesen, weil sie die Orientierung (in ihrem Leben und der Welt) verloren haben. Das wichtigste, was sie brauchen, sind vertraute Menschen, die sie „an die Hand nehmen“ und sicher durch den Alltag begleiten. Jetzt sitzen hunderttausende dieser altersgebrechlichen Menschen verlassen und aus Sicherheitsgründen weggesperrt herum. Ohne Freude, ohne Perspektive.  Was ist das für ein Leben?  Und wofür das Ganze?

Sterben dürfen wenn die Kraft fürs Leben nicht mehr reicht

Jetzt hat auch der Kreis Neuwied seinen ersten Corona-Toten, las ich gestern in der Rheinzeitung.  93 Jahre war der Verstorbene. Woran er tatsächlich verstarb, wird die Öffentlichkeit wohl nicht erfahren.  Hoffentlich hatte dieser Patient besonnene Ärzte, die ihm eine palliative Behandlung zukommen ließen und es ihm nicht auch noch zugemutet haben, an einem Beatmungsgerät auf der Intensivstation sterben zu müssen.  Denn mit dem Tod auf der Intensivstation, ins künstliche Koma versetzt und angeschlossen an ein Beatmungsgerät, muss aktuell wohl jeder hochbetagte Bundesbürger rechnen, wenn er im Endstadium seines Lebens positiv auf Corona getestet wurde  und  eine Lungenentzündung entwickelt hat.

Die Nation steht in Alarmbereitschaft. Kliniken und Krankenhäuser sind gerüstet für den Fall, dass sich die Fallzahlen so rasant entwickeln, wie es in geradezu beschwörerischer Weise ankündigt wird.   Jeder Corona-Tote ist einer zu viel.  Es muss alles getan werden, um das Sterben an diesem Virus zu stoppen.  205 Tote hat Deutschland binnen eines Monats bereits zu beklagen. (Hinweis: täglich starben auch vor Corona rund 2.600 Bundesbürger, 954.000 im Jahr 2018.) 80 Millionen Bundesbürger müssen  zu Hause bleiben, bis die Infektions- und Sterberate wieder nach unten geht.  Für jemanden wie mich, die seit 1970 im Pflegebereich  aktiv ist und ungezählte  Menschen auf den letzten Metern im Leben begleitet hat, überwiegend alte Menschen, ist das alles nicht zu fassen.   An allem dürfen alte Menschen sterben, aber um Himmels Willen nicht an den Folgen einer Lungenentzündung, die durch Covid-19 ausgelöst worden sein könnte.

Jeder Mensch, ausnahmslos jeder von uns stirbt! Es ist noch kein Leben dauerhaft gerettet worden.  Sterben gehört zum Leben wie geboren werden.  Sterben ist ein Grundrecht. Sogar das Bundesverfassungsgericht hat das kürzlich mit Bezug auf die Sterbehilfe (assistierter Suizid) nochmals herausgestellt.  Im Rahmen der Corona-Hysterie hören und lesen wir dieser Tage jedoch nichts anderes, als dass es um Leben und Tod geht,  und darum, das politisch und medizinisch  alles dafür getan werden müsse, damit die Alten und Kranken nicht sterben, zumindest nicht an Covid-19.  An den Folgen einer infektiösen Magen-Darmgrippe durch einen  Norovirus, versterben  jedes Jahr  zahlreiche alte Menschen in den Heimen, was allenfalls in der Lokalpresse bemerkt wird.  Nie wurde deshalb ein komplettes Besuchsverbot verhängt.  Vielmehr reichten die üblichen Hygienemaßnahmen aus, um die Zahl der Betroffenen zu begrenzten. Innerhalb vor 2-4 Wochen war die Gefahr dann wieder gebannt.

 „ Ich kann mich an ein Jahr erinnern, da sind während einer  Grippe-Welle 10 Bewohner in einer Woche in unserem Heim gestorben, ohne dass das irgendwo Aufsehen erregt hat.  Es wurde niemand in Quarantäne geschickt und es gab auch keine Besuchsverbote.“ (ehem. Wohnbereichsleiter, Mitglied)

Der große Unterschied zu den Grippe- Epidemien der vergangen Jahrzehnte  ist nicht zuletzt der, dass bei Covid-19 die Infektionsentwicklung in Zahlen dargestellt  und uns stündlich die Steigerungsrate von Infizierten und  Toten  vor Augen geführt wird.  Da diese Zahlen jedoch nicht ins Verhältnis gesetzt werden, zu den allgemeinen Sterberaten  pro Land/weltweit, wirkt das auf den ersten Blick ganz furchtbar.  Außerdem wird jeder positiv getestet Verstorbene,   als Covid-19 Toter gezählt, auch wenn er an einem Herzinfarkt oder an einer durch Krankenhauskeime verursachten Sepsis oder anderem verstorben ist.  Das gilt auch für Italien.  Der Zustand der Gesundheits- und Sozialsysteme des jeweiligen Landes,  Altersarmut, Wohnverhältnisse, Luftverschmutzung u.a.m, sind Parameter die ebenfalls beziffert werden müssten.   Deutschland ist  vergleichbar mit einem eher gesunden Organismus,  der mit Covid-19 und anderen Viren problemlos fertig wird.  Deshalb wird es in Deutschland nicht annähernd so viele Behandlungsbedürftige und Verstorbene geben.

„Die Pneumonie ist die häufigste zum Tode führende Infektion in Westeuropa. Sie steht in der bundesweiten Todesursachen-Statistik auf Platz 5, ungefähr 3 bis 5% der Patienten sterben jährlich daran. Besonders gefährlich sind die Erkrankungen, die im Krankenhaus erworben werden, die so genannten nosokomialen Pneumonien. Sie sind meist schwer behandelbar, denn ihre Erreger erweisen sich gegen viele Antibiotika als widerstandsfähig.“  Quelle: Lungenärzte im Netz

Sterben zulassen
In seinem Buch  Wie wollen wir sterben?, beschreibt Dr. Michael de Ridder  unter anderem seine eigene Entwicklung von einem Nofallmediziner, der jedes Leben meinte retten zu müssen, hin zu einem Arzt, der zu der Erkenntnis kam, dass Ärzte in Kliniken und Krankenhäusern wieder lernen müssen, Sterben auch zugelassen. Hier ein Auszug:

„Seit ich Zeuge des qualvollen und letztlich aussichtslosen Wiederbelebungsversuchs Gerda L.s geworden bin, sind 15 Jahre vergangen. Wir befinden uns im Schockraum der Notaufnahme eines großstädtischen Krankenhauses. Eine junge Frau, Notärztin, die ihren Beruf als klinisch tätige Internistin seit einigen Jahren ausübt, bringt uns aus einem Pflegeheim einen 88-jährigen Patienten, der seit vier Jahren bettlägerig ist und mit dem man seit sechs Monaten kaum mehr Kontakt aufnehmen kann. Der alte Herr reagiert nicht auf Ansprache, hat Fieber und stöhnt leise vor sich hin. Er hat kaum noch Muskeln, am Kreuzbein findet sich ein großes Druckgeschwür, er wiegt allenfalls noch 40 Kilogramm. Die Notärztin hat den Patienten wegen seines schlechten Blutdrucks an beiden Armen mit zwei Infusionen versorgt, in der Nase liegt eine Sauerstoffsonde, in seiner Blase ein Katheter, die Brust ist mit Elektroden beklebt und der Herzmonitor, den sie in der Hand hält, signalisiert, dass sein Herz noch schlägt.
Freundlich besorgt fragt sie mich, den zuständigen Arzt der Rettungsstation: „Soll ich ihn gleich auf die Intensivstation bringen oder wollen Sie hier erst noch eine Blutgasanalyse abnehmen, den Thorax röntgen und ein EKG schreiben.“ Ich übergehe ihre Frage, bedanke mich für die Übergabe des Patienten und will sie gerade verabschieden, als der alte Mann aufhört zu atmen. Der Herzmonitor zeigt eine Nulllinie. „Schnell, einen Tubus oder eine Maske mit Beutel, bitte, der schnauft nicht mehr“, sagt die Notärztin zu einer der anwesenden Schwestern. „Sachte bitte, Frau Kollegin, sachte“, unterbreche ich sie. Langsam, aber bestimmt – sie will dem Patienten gerade die Beatmungsmaske aufs Gesicht drücken – schiebe ich ihre Hand beseite. „Der alte Herr stirbt gerade, und das gestatten wir im jetzt, einverstanden?“

Gerade jetzt, da sich Kliniken und Krankenhäuser in Deutschland auf eine hohe Zahl  Corona-betroffener, alter Menschen mit Lungenentzündung einstellen, kann ich dieses Buch nur jedem Arzt und Politiker dringend empfehlen. Nötiger als Beatmungsgeräte und Intensivbetten, brauchte es nämlich „einer neuen Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin.“ Dr. de Ridder, der als Notarzt die Zustände in den Heimen Berlins erlebt hatte, fordert darüber hinaus  auf, den Umgang mit unseren Alten grundlegend zu überdenken.

„18,5 Quatratmeter für zwei Personen mit zu Ende gehenden Biographien. Personen, nach deren Vorlieben und Abneigungen niemand fragt; von denen man nicht einmal wissen will, ob sie eine solche Behausung miteinander teilen wollen. Personen, die hier ihren Lebensabend verbringen und teilen sollen, die hier sterben müssen.
Tatsächlich reichen die Missstände tiefer als „nur“ bis zur Ebene mangelhafter körperlicher Pflege und ausbleibender Zuwendung. Sie betreffen längst eine unbewusst durch die Gesellschaft erklärte Ausgrenzung der Pflegebedürftigen, ……. Und längst tangieren sie das, was unsere Verfassung jedem Menschen garantiert: Menschenwürde und Menschenrechte.“

Um ein vermeintliches Massensterben der alten Menschen an oder besser gesagt mit Corona zu verhindern, wurden die laut Verfassung zugesicherten Grundrechte ganz außer Kraft gesetzt. Alle Maßnahmen und Entscheidungen im Umgang mit Heimbewohnern sind dem Infektionsschutzgesetz unterzuordnen.
Sterbeverhinderung (an Corona) wurde zur Chefsache erklärt.  Das ganze Land rückt zusammen. Alle bleiben artig zu Hause, erklären sich solidarisch und nehmen die staatlichen Anordnungen – wie von Gottvater persönlich diktiert – hin. Als sei das ganze Land hypnotisiert worden. Nur wenige trauen sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu stellen.

Da jedoch jeder von uns sterben muss und an irgendetwas sterben wird, wenn er mit seiner Kraft am Ende ist, wäre es gerade jetzt wichtig über den Wert des Lebens und des Sterbens neu nachzudenken. Oder soll dies jetzt immer so ablaufen, wenn wieder ein neues Virus in Umlauf gerät, dass Millionen von Menschen in einen wehrlosen Zustand  versetzt werden und ihre Existenzgrundlage verlieren?

In seinem Buch  Sterben in Deutschland, beschreibt der Soziologen und Theologe, Prof. Reimer Gronemeyer, wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können.  Ich habe so viele auf den Punkt gebrachte Stellen in diesem Buch markiert, dass ich jetzt seitenweise zitieren könnte.

„Sterben ist eigentlich – so der Gießener Palliativmediziner Grimminger – von Natur aus ein“ gnädiger Vorgang“. Ärztliches Handeln ist im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass versucht werde, „natürliche Abläufe“ aufzuhalten. Denn medizinisch gesehen bestehe Sterben darin, dass der Mensch aufhört, Flüssigkeit aufzunehmen und nachhaltig zu atmen. Trinkt der Mensch aber nicht, fällt der Blutdruck und es tritt eine natürliche Narkose ein. Ebenso führt der Sauerstoffmangel zu Müdigkeit und Bewusstlosigkeit. Die Zufuhr von Flüssigkeit und Sauerstoff über Apparate verlängert den Prozess des Sterbens und verlängert auch das Leiden. Medizinisches lebensverlängerndes Handeln besteht im Grunde also in der Unterbrechung dessen, was sich „natürlich“ ereignen würde.“ (S.84)

So gesehen, müsste sich  intensivmedizinisches Eingreifen, zumindest bei all den Patienten (mit und ohne Corona) von Natur aus verbieten, die mit ihren Lebenskräften am Ende sind.   Wenn man diesen Menschen  meint medizinisch noch etwas Gutes tun zu können, wäre hier die Palliativmedizin die richtige Adresse und nicht die Intensivmedizin.
Die Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie (FGPG), hat inzwischen dazu ebenfalls ein Positionspapier   herausgebracht und Behandlungsempfehlungen abgegeben.

Allen, die sich gesundheitlich Sorgen machen, die wissen wollen, wie sie ohne ständige Angst vor Ansteckung und Krankheit wieder zurückkehren können in ein normales Leben, wenn denn die Verbote hoffentlich bald wieder aufgehoben sein werden, denen empfehle ich den Rat von Dr. Bircher in diesem Interview.


Offener Brief an die Bundeskanzlerin von Prof. Sucharit Bhakdi

Beitrag von Dr. Fee Friese:  https://pflegeethik-initiative.de/2022/08/12/vulnerable-gruppen-sippenhaft-in-corona-zeiten/