Streit um Pflegevertrag am Betreuungsgericht Kandel

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Der Betreuungsfall Tommi R., über den wir 2019 bereits berichtet haben, nimmt immer absurdere Züge an. Zunächst entzog das Gericht Tommis Mutter, die zugleich seine Pflegerin und rechtliche Betreuerin ist, die Sorge um das Vermögen, welches diese für ihren schwerstbehinderten Sohn erstritten hatte. Es handelt sich um einen sechsstelligen Betrag, den die Versicherung des Schadensverursachers, in Anerkennung des hohen Pflegeaufwandes, im Jahr 2012 zu zahlen bereit war. Dem 2015 vom Gericht eingesetzten Berufsbetreuer, der ursprünglich eingesetzt war einen Pflegevertrag zu erstellen, erschien das monatliche Pflegegeld, das die Versicherung für angemessen gehalten hatte, zu hoch. Er kürzte es pauschal und ohne offizielles Gerichtsurteil um die Hälfte und gerierte sich gegenüber der Mutter und Hauptbetreuerin als Vormund, der entscheidet, was Tommi braucht und was nicht. Nach einem zermürbenden Hin und Her über sechs Jahre mit zahlreichen Beschwerden, haarsträubendem Verhalten der örtlichen Gerichte und der Unfähigkeit des Berufsbetreuers, einen akzeptablen Pflegevertrag auszuarbeiten, konnte im vergangenen Jahr erreicht werden, dass dieser Berufsbetreuer (im Haupt- oder Nebenerwerb Immobilienmakler) angeblich aus Altersgründen zurücktrat. Nach anfänglichem Aufatmen ging der Streit jedoch weiter und spitzt sich gerade wieder zu.

Worum es bei dem Streit geht

Das Gericht gibt sich nicht mit der Erklärung der Versicherung zufrieden, die auf Grund der Art und Schwere von Tommis Behinderung einen Pflegemehraufwand in Höhe von rund 4000 Euro monatlich anerkannt hatte. Dabei weiß jeder, dass Versicherungen alles versuchen, um die Schadenssumme gering zu halten. Auch die pflegerischen Gutachten der Krankenkasse bescheinigen den höchsten Pflegegrad (PG5).

Tatsächlich bedarf Tommi der ständigen Aufsicht und Begleitung, denn in Folge eines Geburtsschadens wurden sein Gehirn und Nervensystem irreversibel geschädigt. Bewegungsabläufe, die für Gesunde selbstverständlich sind, wie einen Löffel zum Mund zu führen, klappen bei ihm nur selten. Gleichzeitig ist er sehr aktiv, möchte alles Mögliche tun und benötigt permanent eine passende Beschäftigung, um seinen  trotz schwerer Behinderung wachen Geist zu fördern und zu fordern und so Aggressionen zu unterbinden.

Niemand kennt ihn so gut wie seine Mutter, die nun schon seit 35 Jahren täglich für ihn da ist. Auch im Urlaub dreht sich meist alles um Tommi, weil dieser immer jemanden braucht, der sich mit ihm beschäftigt und dabei seine Eigenheiten beachtet. Vor Corona sei Tommi tageweise für ein paar Stunden in einer Tagesförderstätte gewesen. Jetzt weigert er sich, dort nochmals hinzugehen, und beschreibt die Zeit dort in seinen eigenen Worten als „anstrengend“.

Bis 2008 zahlte die Versicherung der Mutter für den Pflegemehraufwand  monatlich 3.144 Euro, abzüglich Krankenversicherung. Da sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann, ist sie auf dieses Geld angewiesen.

Wie zuvor der erste Berufsbetreuer  weigert sich auch der neue Betreuer, der Mutter das von der Versicherung zugestandene Entgelt für die 24-Stunden-Pflege auszubezahlen.  Dabei liegt dieser Betrag weit unter dem, den ein Gericht kürzlich einer Rumänin zusprach, die sich als 24-Stunden-Kraft ausgenützt gefühlt und geklagt hatte, siehe Beitrag: 24-Stunden-Pflege bald nur noch für Reiche.  Außerdem spart die Mutter der Sozialkasse sehr viel Geld, indem sie sich selbst um ihren Sohn kümmert. Würde dieser in einer Behinderteneinrichtung leben, müsste mit monatlichen Kosten von mehr als 8.500 Euro gerechnet werden. Bei einem Antrag auf ein “persönliches Budget“ wären monatliche Kosten von ca. 14.000 bis 18.000 Euro fällig. Für eine 24-Stunden-Pflege, die in drei Schichten  von einem deutschen Pflegedienst ausgeführt wird, muss sogar mit Kosten von monatlich um die 30.000 Euro gerechnet werden.

Aktuell dreht sich der Streit darum, dass das Betreuungsgericht Kandel, namentlich die Rechtspflegerin Frau Hanß, einen Pflegevertragsentwurf, den der Anwalt der Mutter vorgelegt hatte, nicht anerkennen will. Sie verlangt ein pflegewissenschaftliches Gutachten. Es wird dazu seitens des Gerichts vorgebracht, man müsse den tatsächlichen Pflegeaufwand der Mutter ermitteln. Damit stellt sich besagte Rechtspflegerin sogar gegen die Verfahrenspflegerin wie auch gegen die Betreuungsbehörde. Beide hatten dem Pflegevertrag bereits zugestimmt. Sogar der nach dem Abgang des ersten Berufsbetreuers bestellte neue „Vermögensbetreuer“ (ein promovierter Rechtsanwalt)  hatte dem Vertrag zugestimmt.

Der Fachanwalt für Medizinrecht, Prof. Dr. Tolmein, der die Betreuerin/Mutter vertritt, reagiert auf die Forderung der Rechtspflegerin am 01.06.2022 mit einem Schreiben an das Gericht Kandel.
Hier ein Auszug:

„Die Überlegung, dass ein pflegewissenschaftliches Gutachten erstellt werden sollte, stammt vom mittlerweile entlassenen Berufsbetreuer Herbert Schulz, der im Rahmen der Auseinandersetzung wegen seiner von uns beantragten Entlassung (da er keinen Pflegevertrag, den zu erstellen er ursprünglich bestellt war, vorlegen konnte oder wollte), vorbrachte, dass ohne ein solches Gutachten ein Pflegevertrag nicht erstellt werden könnte. Das Schreiben des Gerichts vom 30.12.2019 machte sich diese Auffassung zu eigen und wies darauf hin, dass das Gutachten den Pflegeaufwand der Mutter einerseits und die Höhe der Vergütung andererseits feststellen sollte.“

„Wir haben außerdem darauf hingewiesen, dass ein pflegewissenschaftliches Gutachten auch nicht die Angemessenheit der Vergütung für die Pflege und Assistenz durch die Mutter ermitteln kann, da es sich hierbei nicht um eine pflegewissenschaftliche, sondern um eine originäre rechtliche Fragestellung handelt.
Wir haben weiterhin darauf hingewiesen, dass das Gutachten auch nicht dem Wohle des Betreuten dient, da es nicht unerhebliche Kosten (zw. 4.000 bis 6.000 Euro) verursacht, die zu Lasten des Betreuten  gehen, dessen Vermögen ohnehin stark angegriffen ist.

Wir haben weiterhin darauf hingewiesen, dass es auch aus immateriellen Gründen nicht dem Wohl des Betreuten dient, da eine solche Begutachtung durch eine ihm unbekannte Person nicht nur einen relevanten Zeitaufwand, sondern auch einen beachtlichen Eingriff in seine Persönlichkeitssphäre  darstellt – und schon deswegen nur wenn sie unumgänglich sein sollte, durchzuführen wäre.
Wir haben überdies erläutert, dass wir für die Durchführung eines solchen Gutachtens keine betreuungsrechtliche Rechtsgrundlage sehen.“

Dieses Schreiben blieb bislang unbeantwortet. Derweil spitzt sich die Lage weiter zu, wobei das Gericht in Kandel, namentlich Amtgerichtsdirektor Richter Schmitt sowie Rechtspflegerin Frau Hanß, die Gesetzeslage in einer Weise missachten, die einer Rechtsbeugung gleichkommt.

Aufsummiert kommt hier folgendes zusammen:

  1. Der Betreute selbst wurde zu keinem Zeitpunkt angehört. Bei einem Besuch hätte sich der Betreuungsrichter leicht selbst ein Bild machen können. Außerdem sieht das Betreuungsrecht vor dem Betreuerwechsel eine Anhörung vor. Sowohl der ehemalige als auch der aktuelle Berufsbetreuer  kennen den Betreuten nur aus der Akte. Sie haben diesen nicht ein einziges Mal besucht, was wir als Ausdruck der Geringschätzung werten. Für diese ist Tommi ein Behinderter, der nur Arbeit macht und es nicht Wert ist, sich ihm vorzustellen und ‚Hallo‘ zu sagen. Diese Geringschätzung erlebt auch seine Mutter.
  2. Beschwerden wurden ignoriert oder ungeprüft ausgesessen. Was auch immer die Betreuerin/Mutter gegen den damaligen Betreuer Schulz vorgebracht hat, das Gericht ignorierte alles. Dieser Mann schien sich alles leisten zu können, er konnte schalten und walten, wie er wollte. So durfte er für seine Leistungen einen Stundensatz von 110 Euro berechnen. Bis heute weiß die Betreuerin/Mutter nicht, was der Betreuer mit dem Vermögen gemacht hat, wie viel davon noch übrig ist. Null Transparenz seitens des Gerichtes. Das Konto wird wie eine Verschlusssache behandelt. Erst als Verdachtsfälle von Missbrauch und Betrug  aus anderen Betreuungen dem Gericht mitgeteilt wurden, wurde Herrn Schulz wohl nahe gelegt, seine Entlassung zu beantragen.
  3. Obschon ehrenamtliche Betreuer zur Verfügung standen, setzte das Gericht erneut einen Berufsbetreuer ein. Nach der Entlassung des Herbert Schulz hoffte die Familie zunächst, dass das Gericht die Personen einbeziehen würde, die bereits 2019 ihre Bereitschaft als ehrenamtliche Betreuer schriftlich erklärt hatten. Niemand wurde jedoch eingeladen. Niemand wurde gefragt. Es fand weder die vorgeschriebene Anhörung des Betreuten statt, noch wurde dessen Mutter als Hauptbetreuerin und Verfahrensbeteiligte gefragt. Das Gericht entschied komplett über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Eine Entscheidung, die außerdem das Konto des Betreuten in unnötiger Weise belastet. Die pauschale Vergütung für Berufsbetreuer liegt um ein Fünffaches höher als für ehrenamtliche Betreuung.
    Denen, die sich seit langem mit diesem Fall befassen, drängt sich der Verdacht auf, dass das Gericht deshalb einen Rechtsanwalt als Berufsbetreuer eingesetzt hat, damit die Machenschaften des Vorgängers nicht herauskommen, hinter den sich das Gericht die ganzen Jahre schützend gestellt hatte.
  4. Zwischenzeitlich blockiert die Rechtspflegerin selbst die Erstattung von Auslagen der Mutter für besondere Bedarfe.
    Konkret:  2021 hatte die Krankenkasse des Betreuten, die DAK, einen zweckgebundenen Zuschuss von 4000 Euro, für einen behindertengerechten Badumbau im Obergeschoss bewilligt und im April 2022  auf das Konto von Tommi ausbezahlt. (Zu diesem Konto hat nur der Berufsbetreuer Zugang.) Auch dieser Betrag wird der Mutter  bis heute vorenthalten, trotz aller Nachweise und Belege.

Leider ein weitere Fall, der uns die Kluft vor Augen führt, die  zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Betreuungsrechts allzu oft klafft. Selbst wenn derart krasse Verstöße nach unserer Erfahrung eher die Ausnahme sind, jeder Fall von Betreuungswillkür untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat.

Eine ganze Gemeinde stellt sich hinter Tommi

Abschließend einkopiert ein Bericht der Vorsitzenden A. v. Stösser  von der Solidaritätskundgebung der Ortsgemeinde Neuburg am Rhein. Der  gesamte Ort nahm Anteil und setzte sich in einer beispiellosen Form für einen würdigen und gerechten Umgang des Gerichts mit Tommi ein.  Plakat_Solidaritätskonzert pdf

„Am 31. März 2019 hatten mein Mann und ich das Vergnügen, einer außergewöhnlichen Solidaritätsbekundung beiwohnen zu können. Sämtliche Chöre und Musikgruppen, die Neuburg am Rhein zu bieten hat, waren an diesem Sonntagnachmittag in der evangelischen Kirche angetreten. Denn Tommi, der 1987 durch einen Geburtsschaden schwerst behindert zur Welt kam, liebt Musik über alles. Er kannte alle dargebotenen Stücke und konnte sich vor Begeisterung kaum auf seinem Platz halten.  Im Duo mit Lothar Burg  trug Tommi sogar selbst einige Lieder vor.  Seine Begeisterung war einfach ansteckend.  Insgesamt eine großartige Stimmung, in dieser bis auf die Empore vollbesetzten Kirche, die lediglich durch meine kurze Ansprache etwas getrübt wurde, in der  es um den bedrückenden  Anlass ging.

Was war passiert: Tommis Mutter, Frau Rapp, kümmert sich bis heute Vollzeit um ihren Sohn. Sie hat ihr Leben quasi in seinen Dienst gestellt. Bis vor einigen Jahren lebten beide von der Rente, die sie für Tommi von der Versicherung des Arztes erstritten hatte.  Irgendwann habe die Versicherung jedoch darauf gedrungen, die monatliche Rente einzustellen und den Schaden in einer Summe abzufinden.  Nun war auf einmal viel Geld da. Jedoch, anstatt der Mutter zu helfen, das Geld für den Betreuten sicher anzulegen,  setzte das Gericht einen Immobilienmakler als Vermögensbetreuer ein, der sie zur Bittstellerin machte. Dieser Betreuer sitzt quasi auf dem Geld seines Betreuten.  Weder Tommi noch Frau Rapp erhalten Einsicht und Auskunft. Als zum Beispiel die Heizung in ihrem Haus kaputt ging, musste Frau Rapp Bekannte bitten, ihr das Geld für eine Instandsetzung zu leihen. Es sei ein ständiger, zermürbender Kampf um Selbstverständlichkeiten. Beschwerden und Anträge auf Betreuerwechsel blieben erfolglos, sogar die vom Gericht eingesetzte Verfahrenspflegerin, eine Rechtsanwältin, die die Mutter im Recht sah und sich mit einer Beschwerde ans Landgericht gewandt hatte, konnte die Absetzung des Betreuers nicht erreichen.  Beweise zählen hier gar nichts. Der Betreute wird nicht gefragt. Gericht und Betreuer behandeln diesen, wie jemand der nichts versteht. Dabei konnte sich jeder am Sonntag davon überzeugen, dass dieser junge Mann seinen Willen und seine Meinung unmissverständlich äußern kann.  Man könnte vermuten, dass der Betreuer den Richter in der Hand hat. Dieser darf sich mit einem Stundensatz von 110 Euro am Konto des Betreuten bedienen, ohne seine Leistung nachweisen zu müssen.

Was Familie Rapp hier erlebt, das verstößt derart gegen alles, was Recht ist oder zumindest so empfunden wird, dass sich im Februar 2019 ein Unterstützerkreis gebildet hat, der inzwischen gut 3700 Personen umfasst.  Neben den Bürgern von Neuburg hatten sich bundesweit zahlreiche Bürger:innen an einer Petition beteiligt. Auch wenn nicht anzunehmen ist, dass sich besagtes Gericht per Unterschriftenliste in seiner Haltung umstimmen lässt, gibt es in solchen Fällen keinen anderen Weg als den des öffentlichen Protestes.

Vor diesem Hintergrund war es für alle wohltuend zu erleben,  wie sich eine so große Gemeinschaft  solidarisch hinter einen Menschen stellt, der eigentlich nicht in eine Welt passt, in der vor allem Leistung zählt.  Das liegt wohl vor allem an der Art, wie Tommis Mutter mit der schwierigen Situation umgegangen ist. Frau Rapp hat sich zum Beispiel neben ihren Sohn in den Kindergarten im Ort gesetzt, und so dazu beigetragen, dass „jeder hier den Tommi und mich kennt und der Tommi einfach dazugehört“, erklärt sie die große Anteilnahme.

Abschließend greift der Hausherr dieses   Konzertes, Pfarrer Heiko Schwarz, zur Gitarre, um mit allen gemeinsam zu singen:

Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur.  Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu.  — Das bist du, —  das ist der Clou, — du bist du. — Ja, du bist du.“ (Refrain von „Vergiss es nie“)


Siehe auch:  Erfahrungen mit rechtlicher Betreuung im Pflegebereich